Holm Reuver II – Fotografische Auswertung transparenter Zahnpräparate

von Holm Reuver

Bevor die einzelnen topografischen Merkmalen von Wurzelkanalsystemen näher beleuchtet werden, soll noch ein wenig auf die fotografische Auswertung transparenter Zahnpräparate eingegangen werden.

Ein paar Ausrüstungsgegenstände haben sich bei mir sehr bewährt und ich möchte keines davon missen oder austauschen. Als Kamera verwende ich die Systemkamera Canon RP mit dem Canon-Objektiv MP-E 65 mm, das mit dem Adapter EF-EOS R an der Canon RP gut funktioniert. Ein tolles Feature des Objektivs ist die Rotationsmöglichkeit der Kamera trotz Montage am Stativ. Dadurch kann jeder Wurzelkanal blitzschnell achsengerecht im Bild ausgerichtet werden. Für reibungsloses Arbeiten benötigt man ferner ein Stativ, das nicht nur stabil ist sondern auch mit einer höhenverstellbaren Mittelsäule ausgerüstet ist. Zur genauen Fokussierung ist ein guter Monitor erforderlich, der das Kamerabild in ausreichend großem Format widergibt. Nur so können winzige Strukturen sicher scharf gestellt werden. Die Kamera wird dazu über die EOS-Utility-App mit einem Computer verbunden und per Maus über die App bedient (Tether-Shooting).

Die Schichten von Objekten, die mit Makrofotografie scharf dargestellt werden können, sind wesentlich kleiner als die Dicke transparenter Präparate. Daran ändert auch eine sehr kleine Blende nichts. Um ein transparentes Zahnpräparat als ganzes Volumen scharf abzubilden, werden deshalb viele Einzelbilder gemacht, die als Serie in zu- bzw. abnehmender Entfernung aufgenommen und später mit einem Programm zu dem Ergebnisbild verrechnet werden. In diesem sind dann alle Details der aufgenommenen Serie scharf abgebildet.

Das von der Serie erfasste Volumen soll alle Strukturen von Interesse beinhalten. Alle anderen Anteile des transparenten Präparats, die vor oder hinter dem Volumen der Bildserie liegen, sollen möglichst ausgeschlossen werden, damit unwichtige Details das Ergebnisbild nicht stören. Mit diesem Ziel werden das vorderste und das hinterste Bild einer Serie festgelegt. Mit der Anzahl der Einzelbilder muss sichergestellt sein, dass alle Details des aufgenommenen Volumens in einem der Einzelbilder scharf abgebildet sind. Wenn die Einzelbilder mit weit offener Blende aufgenommen werden, verschwimmen unwichtige Bildinhalte noch stärker in Unschärfe und die interessanten Details treten stärker hervor.

Mit dieser Technik lassen sich beliebig dicke oder dünne Schichten virtuell und zerstörungsfrei aus den Präparaten herausschneiden. Die Erfassung der gesamten Tiefe eines Zahnpräparats als Volumen reicht jedoch nicht aus, um Zähne und Wurzelkanalsysteme räumlich zu verstehen. Dazu müssen andere, ergänzende Perspektiven herangezogen werden. Die Fotografie transparente Präparate aus beliebigen Richtungen soll zu späterer Gelegenheit separat erklärt werden.

Videos von rotierenden Präparaten machen die visuelle Erfassung der räumlichen Zusammenhänge noch wesentlich einfacher. Sie sind oftmals unverzichtbar, wenn Einzelbilder nicht sicher interpretierbar sind. Erkauft wird das mit einer geringeren Auflösung, Tiefenschärfe und Brillanz. Diese Nachteile können mit einer Micro-four-third-Kamera, einem 30 mm Makroobjektiv und Blende 22 in Grenzen halten. Bewährt hat sich die Olymmpus OM-D E-M1 Mark II.

Ein Video war bereits in Teil 1 über transparente Zahnpräparate zu sehen. Die hier zu sehenden Folien geben einen Einblick in die Möglichkeiten der Bildauswertung mit Fotos. Zu sehen ist ein Zahn 26, der 15 Jahre zuvor wurzelkanalbehandelt worden war.

Abb. 2.1: Die mesiobukkale Wurzel eines Zahns 26 in der Ansicht von palatinal. Von dem visuell erfassbaren Volumen ist jeweils nur ein Gebiet von Interesse fokussiert, hier das apikale Ende des mb1-Gleitpfads.

Abb. 2.2: Im Fokus ist der Hauptanteil eines mesiozentralen Kanalsystems.

Abb. 2.3: Im Fokus ist die von der Wurzelkanalbehandlung nicht erfasste mb2-Endstrecke.

Abb. 2.4: Im Fokus ist das apikale Ende einer Via falsa, die von mb2 ausgeht. Es besteht hier keine Verbindung mit dem Parodont.

Abb. 2.5: Ansicht von mesial: Es wird deutlich, wie tief das Volumen ist, wie viele Strukturen von Interesse darin enthalten sind und wie sie zueinander in Beziehung stehen. Fazit: Untersuchungstechniken, mit denen sich nur plane Ebenen auswerten lassen, sind nicht geeignet zur Untersuchung räumlicher Zusammenhänge.

Abb. 2.6: Fotos derselben Situation mit zwei unterschiedlichen Lichtführungen, die zur fotografischen Standardauswertung gehören und jeweils etwas andere Strukturen besser erkennen lassen: das mesiozentrale Kanalsystem im linken Bild und das Obturationsmaterial im rechten. Links Dunkelfeld, rechts Durchleuchtung des Präparats mit gebündeltem (kollimiertem) Licht, bei dem die Lichtstrahlen weitgehend parallel zueinander verlaufen und mit dem zusätzlich Strukturen durch Lichtbrechung sichtbar gemacht werden. Für beide Aufnahmen wird eine Grundbeleuchtung von rechts und links angeordnet, um opake Strukturen wie Obturationsmaterial sichtbar zu machen. Zur Verbesserung des räumlichen Eindrucks wird die Intensität der seitlichen Lampen unterschieldich eingestellt.
Durch Farbpigmente (hier grün) lässt sich zeigen, welche Anteile der Wurzelkanalsysteme Verbindung zum Parodont hatten.

Abb. 2.7: Eine starke Vergrößerung ist möglich und nützlich. Am Beispiel der apikalen Endstrecken von mb1 sind unterschiedliche Ergebnisse zu sehen: Am Ende des erweiterten Gleitpfads hat sich Sealer (AH Plus) gestaut. Dagegen ist in zwei apikale Ramifikationen unterschiedlich viel Sealer eingeflossen, wodurch Mischzonen aus Sealer und unbekanntem Material entstanden sind aber keine dichte Füllung. Welche Substanzen neben AH Plus in den Mischzonen vorliegen, kann mit transparenten Präparaten nicht beantwortet werden. Der blaue Pfeil deutet auf das Foramen der einen Ramifikation, über das Farbpigmente in die offenen apikalen Endstrecken eingedrungen sind.

Abb. 2.8: Durch eine andere Perspektive ist die räumliche Anordnung der einzelnen Strukturen besser interpretierbar.

Abb. 2.9: Eine starke Vergrößerung ist auch für die Beurteilung des mesiozentralen Kanalsystems wichtig, hervorgehoben mit Linien in gelb, weiß und grün. Es ist irregulär, kleinlumig und besitzt zwei eigene Ausgänge. Blauer Pfeil: Ein weiterer Anteil des mesiozentralen Kanalsystems enthält dunkle Substanz und entspringt ebenfalls dem Isthmusbereich. Unten im Bild: Dunkle Massen im Isthmusbereich, vermutlich nekrotische Gewebereste mit zersetzten Blutanteilen. Zwei weiße Pfeile im linken Bild zeigen auf einen Kanal, der von der gegenüberliegenden Wurzeloberfläche ausgeht und blind im Dentin endet.

Unser Mann in… Madrid

12 Jahre Madrid

von Alexander Knobel

Wie die Zeit vergeht. Am 01.03.2010, also vor etwas mehr als 12 Jahren, habe ich meine „Clinica Dental“ in Madrid eröffnet.
Heute kann ich über meine Naivität nur noch den Kopf schütteln.

Mein Name ist Dr. Alexander Knobel und ich habe mein Examen 2000 an der Uniklinik in Heidelberg abgeschlossen.
Anschließend habe ich 10 Jahre als Assistenzarzt, angestellter Zahnarzt und final als Partner in einer Gemeinschaftspraxis im Rhein-Neckar Kreis gearbeitet.

Dazu und wie ich überhaupt auf die damals verrückte Idee kam, nach Spanien auszuwandern und in Madrid eine Praxis zu gründen, hatte ich bereits in mehreren Beiträgen (hier und hier und hier und hier) auf WURZELSPITZE veröffentlicht.
Kurz zusammengefasst: Meine Frau ist gebürtige Madrilenin und wollte aus familiären Gründen wieder zurück und ich sah hier meine Chance für angestrebte 2 Jahre etwas Auslandserfahrung zu sammeln.
12 Jahre später muss ich gestehen, dass mein Masterplan nicht ganz aufgegangen ist.

Dabei kann und werde ich mich nicht beschweren, will aber auch ehrlich sein.

Neben einer geschätzten Wochen-Arbeitszeit von 60-80h in den ersten 5 Jahren (auch am Wochenende war ich in der Praxis präsent), die alles andere als fürstlich bezahlt wurden, hatte ich auch enorm viel Glück und eine große spanische Familie, die es mir erlaubte das Experiment finanziell unabhängig anzugehen.
Inzwischen bin ich hier gut bekannt und meine Praxis knobel.dental läuft.
Ich bin als Referent für das CEREC System und als KOL für Sprintray unterwegs und habe zusätzlich das Vergnügen, neben in Madrid gestrandeten Soldaten, Expats aus der ganzen Welt, Politikern und Journalisten auch den ein oder anderen Superstar zu betreuen. Auch die Wertschätzung im spanischen Kollegenkreis hilft sehr über hin und wieder vorhandenes Heimweh hinweg.

Dennoch ist auch nach 12 Jahren jeder Monat ein kleiner Drahtseilakt.

Zahnmedizin wird hier zu 100% aus eigener Tasche bezahlt und ist kein Bestandteil des sozialen Gesundheitssystems. Umso schwerer ist es daher die Patienten zur Prophylaxe und notwendigen zahnmedizinischen Behandlungen zu bewegen.
Daneben gibt es an jeder Ecke Zahnarztketten nach dem McDonald Prinzip und die großen privaten Zusatzversicherung haben ihre eigenen Praxen.
Es werden in Madrid jedes Jahr ca. 500 junge arbeitswillige Zahnmediziner auf den Markt gespült und hierbei habe ich noch nicht einmal die Masse an südamerikanischen Zahnärzten erwähnt, die im gelobten Land Spanien ihr Glück versuchen.
Preisdumping („what you pay is what you get“) und dentaler FastFood bestimmen die zahnärztliche Landschaft.
Eine sehr gute Zusammenfassung wurde vom Kollegen hier bereits veröffentlicht:
https://ocndo.home.blog/2021/02/19/69-prozent-teil-2-forca-barca/

Dennoch sollte man die spanische Zahnmedizin nicht unterschätzen. Wer gerne Zeit auf internationalen Kongressen verbringt, wird feststellen, dass namenhafte Top Referenten aus Spanien kommen. Was hier abgeliefert wird hat Champions League Niveau. Da muss man sich schon anstrengen, um mitspielen zu dürfen. 5% top und der Rest maximal ausreichend (laut Aussage spanischer Referenten).

Spannend ist, dass die Zahnmedizin hier rasend schnell in das digitale Zeitalter eilt.
Lag der Anteil intraoraler Scanner 2019 noch bei 3-4%, liegen wir 2022 bei über 20%. Erstaunlich, gerade weil die Umsätze einer Zahnarztpraxis kaum vergleichbar mit einer deutschen Praxis sind und hier die Kosten solcher Systeme schmerzhaft weh tun.

Und je verrückter die bürokratischen Hürden und Zwänge in Deutschland werden, umso mehr erreichen mich in jüngster Zeit immer wieder Anfragen von Kollegen, die unbedingt in Spanien ihre Praxis eröffnen möchten, da hier alles so viel besser ist.
Und da muss ich leider enttäuschen. Hier ist relativ wenig besser, wenn es um den Beruf des Zahnarztes geht.
Korrekt ist sicherlich, dass man es sich schön einrichten kann und der bürokratische Aufwand überschaubar ist.
Nur sollte man sich nicht der Illusion hingeben, dass hier irgend jemand auf einen wartet.
Der Markt ist mehr als gesättigt. Wer nicht bei McDonald, Vitaldent, Unidental etc. enden möchte, sollte sich diesen Schritt genau überlegen. Ohne spanisch Kenntnisse und einer großen spanischen Familie im Rücken wird die Luft dünn.

Ganz interessant ist auch hier eine neue Studie spanischer Wissenschaftler aus dem Jahr 2019 zum Burn-out-Syndrom. Dabei leiden 9,8% der spanischen Zahnärzte unter starkem Burn-out.
(https://doi.org/10.1016/j.jdent.2022.104143)
Wichtig zu wissen ist dabei, dass diese Studie vor der Covid Pandemie und dem rigorosem Lockdown in Spanien erstellt wurde, welche mit Sicherheit zu einem weiteren Anstieg geführt hat.
War bis vor der Krise das so hoch gepriesene QM Management in Deutschland hier noch ein komplettes Fremdwort, so werden auch wir hier nun komplett zugbombardiert. Alles noch überschaubar … aber dafür ungebremst.

Genau wie die Zahnarztketten und die fehlende Wertschätzung unseres Berufes in Deutschland ankommen, so werden wir nicht von der Bürokratie verschont. Das mag an der Küste noch entspannter zugehen. In Madrid sind Kontrolle, ob auch wirklich jeder Spiegel eingeschweisst und validiert ist, nun der Alltag.
Am Schluss die immer wieder gestellte Frage, ob ich den Schritt bereue und es wieder machen würde.
Die Antwort darauf fällt mir extrem leicht.
Ich bereue nichts und bin mehr als dankbar wie alles gelaufen ist.
Durch harte Arbeit und auch viel Glück konnte ich hier meinen Platz finden. Aber ich würde es nicht wieder tun. Mit der gleichen Energie und dem Aufwand wäre sicherlich noch viel größeres in Deutschland möglich gewesen.
Einzig auf die Anzahl der Sonnenstunde könnte ich definitiv nicht mehr verzichten.
Sonne ist zum Lebenselixier geworden und läßt einen dann doch über vieles hinwegsehen.

Wann ist ein Instrument ein gutes Instrument (2)

von Nils Widera

Anwenderbericht Procodile Q

Seit September diesen Jahres ist die neueste Entwicklung von Komet käuflich zu erwerben. Eine Weiterentwicklung der bekannten Procodile durch eine thermische Behandlung hin zur Procodile Q.
Und tatsächlich ist das nicht alter Wein in neuen Schläuchen, sondern für mich die bisher beste Feile die Komet auf die Beine gestellt hat.
Ganz allgemein handelt es sich um eine Reziprok-linksläufig arbeitende Feile. Das Spektrum der angebotenen Instrumente reicht von 20 bis 50. Der Taper wird mit der Zunahme des Spitzendurchmessers kleiner. 20, 25 und 30 weisen einen 6er Taper auf, 35 und 40 einen 5er und schlussendlich 45 und 50 dann nur noch 4 Prozent.
Ich hatte die Möglichkeit, die Instrumente bereits sechs Monate vor Verkaufsstart regelmäßig einzusetzen und die 06/20 und 06/25 haben sich mittlerweile in mein Standardaufbereitungskonzept „gearbeitet“.

Nun wissen alle, die viel und gerne Endo machen, dass es die eine Feile für alles wie von der Industrie immer wieder versprochen und propagiert nicht gibt. Aber mein Fazit ist, das mit den oben genannten zwei Vertreterinnen sehr viel möglich ist.

Wo liegen nun aus meiner Sicht die Vorteile?
Eine sehr gelungene Balance zwischen „Weichheit „und Wiederstand. Will sagen, Vorbiegen ist gut möglich aber auch laterales Ausbürsten im Zug der Aufbereitung bleibt weiterhin sehr gut machbar.

Ich habe apikal in vielen Fällen bis ISO 12 mit einer Handfeile vorgearbeitet und dann direkt die 06/20 Procodile Q auf Arbeitslänge gebracht. Angewendet im E-Connect-S von Eighteeth (ein Testbericht zum diesem Motor folgt demnächst hier bei WURZELSPITZE ) unter direkter Endometriekontrolle im immer flüssigkeitsgefüllten Kanalsystem kam es so gut wie nie zu Problemen bei Erreichen des endometrischen Apex. Der kabellose Motor ist komplett individuell einzustellen und ich habe als Werte 200 ccw 50 cw bei 300 Umdrehungen und 1 Ncm als Belastungsgrenze gewählt. Wer auf einen kabellosen Antrieb umstellen möchte, dem sei der E-Connect S zum Testen sehr ans Herz gelegt. In den letzten 8 Monaten hat er alle anderen Antriebe (Morita TriAuto ZX2, Schlumbohm, VDW Gold) in unserer Praxis aufs Abstellgleis befördert.
Die weitere apikale Ausformung kann dann so gehandhabt werden, wie es jeder möchte. Wie bereits erwähnt, lässt das System alles bis 50 zu. Aber die für mich wichtigste und leistungsstärkste Feile ist die 20iger. Super frakturresistent, sehr flexibel auf den ersten 3-4 Millimetern, großer Spanraum. Und hier gefällt mir der 6er Konus eben besser als die apikal höheren Werte bei Reciproc oder WaveOne Gold.
Wie stark sich die Feile einschraubt, lässt sich über vollkommen drucklose oder eben leicht kraftvolle Aufbereitung sehr gut steuern.

Zwei aktuelle Fälle, gelöst mit oben erwähnter Sequenz und aufbereitet in mb1, mb2 und d bis 25, palatinal bis 35 habe ich mit angehängt. Als Sealer kam hier CeraSeal zum Einsatz.

Also her mit den Fragen oder Testberichten eurerseits! Ich bin gespannt auf eure Einschätzungen.

Ein nicht ganz alltäglicher Fall, den ich euch vorstellen möchte…

von Nils Widera

Ein nicht ganz alltäglicher Fall, den ich euch vorstellen möchte.
Die Patientin wurde zu mir überwiesen zur endodontischen Therapie an den Zähnen 36 und 37.
Wobei Zahn 37 vor etwa 4 Monaten primär behandelt wurde und es dabei zur im OPG deutlich sichtbaren Fraktur eines Instrumentes im distalen Kanalsystem kam. Das positive: Der Kollege hat die Patientin darüber aufgeklärt und als einzigen möglichen Lösungsansatz ein chirurgisches Vorgehen vorgeschlagen, wobei er eher zur Extraktion als zur WSR und retrograden Entfernung riet.
Die Patientin wechselte daraufhin die Praxis. Tatsächlich plagten Sie ob des langen Fragmentes mal mehr, mal weniger starke Schmerzen. Das gab Sie zumindest anamnestisch an.
In der Folge wurde Sie zu mir überwiesen.
Die klinische Untersuchung zeigte feste und gepflegte Zähne. Zahn 37 war aufbissempfindlich.
Daran hatte auch ein bereits erfolgtes außer Kontakt nehmen nichts geändert. Radiologisch sind zwei Probleme für mich deutlich ersichtlich: 1. Die Nähe des Fragmentes zum Nervkanal und 2. Die geringe Länge des im Kanal verbliebenen Fragmentanteils. Ich habe zur besseren Beurteilung ein DVT angefertigt und einige Screenshots mit angehängt.

OPG mit sichtbarem Fragment 37 distales WKS


Ich habe mich nach Auswertung des DVTs und nach der Frage der möglichen Vorgehensweise hin- und hergerissen gefühlt, ob es möglich ist die Fragmententfernung orthograd durchzuführen?
Was hättet Ihr gemacht?
Meine Idee war folgende: Warum nicht den Weg einer internen „orthograden WSR“ einschlagen? Ich habe also mit Hilfe eines Endo Tracers gelb und einer U-File rot im EndoChuck den Zugang zum Fragmentkopf geschaffen. Das Fragment war dann recht gut zu sehen und die Beleuchtung mittels zweier LED des Flexion Twin war hier sehr hilfreich. Da ich leider, trotz Ha-Wi ́s super Fotolehrgang, ein fotografisches Nichttalent bin, bitte ich die Qualität der teilweise nicht ganz einfachen Aufnahmen zu entschuldigen.
Nach ca. 45 Minuten war der Fragmentkopf unter für diese Verhältnisse maximaler Substanzschonung sichtbar – das Fragment saß superfest eingeschraubt im Apex. Alles so gut wie möglich auf Bild 1 dargestellt.

Um das Fragment jetzt sicher entfernen zu können, kam nach meinem Dafürhalten nur die Schlaufentechnik in Frage. Aber da der Fragmentkopf, wie das DVT bereits vermuten ließ, bündig in der apikalen Konstriktion gefangen war, stellte sich ein Umschlingen zu diesem Zeitpunkt als unmöglich dar. Unter Anwendung des EndoChucks und mehrerer U-Files habe ich dann die komplette apikale Konstriktion um das Fragment entfernt und dabei peinlich darauf geachtet die Schwingungsrichtung immer von Fragment weg gegen das Dentin / Zement zu richten. Auf diesem Weg wurde dann wie auf Bild 2 zu sehen ist (hoffentlich) ein circumferenter Graben um das Fragment gelegt.

Teil drei der Fragmententfernung bestand dann aus dem Anschlingen des Fragmentes, dem vorsichtigen verjüngen der Schlaufe und der Entfernung. Es kam ein 0,09er Draht in einer 0,3er Kanüle mit dem FragRemover zum Einsatz. Und Tatsächlich gelang das Entfernen mit dem ersten Zugversuch im dritten Bild zu sehen.

Die weitere Behandlung und WF erfolgten dann in einer zweiten Sitzung. Distal kam MTA zum Einsatz – und ja, ich hätte sehr gerne weniger periapikal gesehen.
Die Patientin war mittlerweile zur Kontrolle 4 Wochen Post OP und vollkommen beschwerdefrei. Und der 6er ist auch fertig.

Chronologie des Scheiterns

von Oliver Schäfer

Vor Pfingsten hatte ich Post von der apoBank. IT-Umstellung, Aktivierungscode, neue App – alles angekündigt um das Banking in Zukunft besser, komfortabler und sicherer zu machen. 1 Woche später bin ich noch immer aus meinen eigenen Konten ausgesperrt und die Bank unfähig mir zu helfen. Aber der Reihe nach:
Die apoBank stellt auf ein photoTAN genanntes Verfahren um, bei dem die TANs via Handy App generiert werden, indem man einen farbigen QR-Code scannt. Um das Verfahren zu nutzen, muss man die runtergeladene App auf dem Handy mit dem eigenen Online-Banking Account verknüpfen.
Am Dienstag nach Pfingsten lud ich die neue App, scannte brav den Aktivierungscode aus dem Brief, gab die TAN ein. Kurze Zeit später stürzte die App ab und öffnete wieder, als wäre nichts gewesen. Okay dann versuche ich die Prozedur eben nochmal. Dumm nur, dass im System der Bank mein Telefon ab diesem Zeitpunkt bereits als „verknüpft“ gilt. Alle Versuche sich ab jetzt online anzumelden, erfordern eine photoTAN, die ich leider aufgrund der noch nicht verknüpften App nicht erzeugen kann. Neu verknüpfen geht auch nicht mehr, weil man sich dafür anmelden muss. Naja, wird halb so wild denke ich und beschließe meinen Bankberatern eine Mail zu schicken.
1 Tag später, keine Reaktion. Okay, dann rufe ich eben die Hotline an. O-Ton „Der Teilnehmer ist derzeit nicht erreichbar“, über Stunden. Also weiter warten. Am Nachmittag erhalte ich einen Rückruf in der Praxis. Meiner Mitarbeiterin an der Rezeption wird lapidar erklärt, ich solle die App einfach neu installieren. Ich schreibe eine höfliche Mail zurück, danke für die Info (wie ich bereits vermutet hatte war sie inhaltlich unnütz) und bringe zum Ausdruck, dass ich nicht wünsche, dass meine „Bankprobleme“ an mir vorbei mit meinen Mitarbeitern besprochen werden und ich gern per Mail kontaktiert würde.
1 Tag später keine weitere Reaktion seitens der Filiale, ich komme bei der Hotline durch und erkläre der Mitarbeiterin mein Problem. Ihre Lösung ist mir den Aktivierungsbrief erneut zuzusenden. Ich rolle innerlich mit den Augen, aber was solls. Ich erfahre am selben Abend, dass sich meine Bankberaterin vermutlich bis Mitte Juli krankgemeldet hat. Aber mein Anliegen wird von Ihrem Kollegen bearbeitet. 1 Tag später ruft eben jener Kollege erneut in der Praxis an und bespricht sich mit meiner Rezeption – inhaltlich nicht zielführend. Jetzt platzt mir der Kragen, neue Mail diesmal betont unfreundlich und mit der entsprechenden Datenschutzbeschwerde an den Vorgesetzten versehen. Keine 2h später ruft der gleiche Sachbearbeiter wieder in der Praxis an, versucht den Hals aus der Schlinge zu ziehen, als das nicht klappt, erklärt er mir, das er sich jetzt O-Ton „erst um seine 68 anderen Kunden kümmern wird“. Ich schreibe eine neue Mail in der ich mit Kontoschließung drohe und bekomme noch am gleichen Abend eine Antwort vom Filialleiter. Er entschuldigt sich, nach 4 Tagen der erste, was mich zumindest ein wenig versöhnlich stimmt.
Am kommenden Morgen vereinbaren wir ein Telefonat mit einem neuen Berater. Selbes Spiel, alle Infos (mittlerweile von mir mit Screenshots aufbereitet) werden weitergegeben, dann ist Wochenende. Am Montag Mittag dann noch immer keine Rückmeldung von niemandem. Neue Mail, die Antwort verblüfft ein wenig – ich soll es einfach weiter probieren und mich melden, wenn es klappt. Ich schreibe den Filialleiter an und frage, ob man wenigstens Überweisungen schriftlich anweisen kann. Will mein Geld mittlerweile nur noch „in Sicherheit“ zu einem anderen Institut bringen. Ich bekomme schnell Antwort, wir telefonieren, er schickt mir einen eingescannten Überweisungsträger, den ich bitte unterschrieben in die Filiale faxen soll. Inhaltlich fragt er mich, ob mein Problem an einem fehlenden Aktivierungscode liegt.

Kanülenverlängerung

von Mario Schulze

Bei postendodontischen Aufbaufüllungen besteht der Wunsch, das Füllmaterial lufteinschlussfrei auch in die Wurzelkanaleingänge einzubringen. Die von den einzelnen Herstellern angebotenen Mischkanülen sind dafür entweder zu kurz oder/ und zu dick. Die in der Abbildung dargestellte Eigenproduktion löst dieses Problem.

Die Spitze einer grünen Capillary Tip (Ultradent) wird für die bei uns verwendete Mischkanüle vom CoreX- Flow (Dentsply) ca. 8mm eingekürzt und mit Klemmpassung in die Mischkanüle geschoben. Die Friktion reicht, um beim Applizieren des Komposits stabil zu bleiben.

Trauma, MTA und Extrusion

von Oliver Schäfer

Freitag Abend, die Praxiswoche liegt hinter mir, als plötzlich das Handy klingelt. Die 14-jährige Cousine meiner Frau ist mit dem Roller gestürzt, 1 Zahn ist abgebrochen, es blutet – mehr Infos habe ich nicht als ich etwa 30min später in der Praxis ankomme. Kurz bevor die junge Patientin eintrifft, „wünsche“ ich mir eine unkomplizierte Kronenfraktur mit aufgeschürfter Lippe. Doch schon der extraorale Befund mit massiver Weichteilschwellung lässt einen anderen Verlauf vermuten. Intraoral:

  • Massive Lazeration der Wangeninnenseite ca. 0,5cm tief, klaffend
  • 21 nach bukkal luxiert und leicht verlängert, Lockerungsgrad II, Blutung aus PA Spalt
  • 32 horizontale Kronenfraktur mit Eröffnung der Pulpa. Frakturlinie von bukkal 3mm supragingival schräg nach lingual deutlich subgingival
  • Fragment 32 vorhanden, Blutung der lingualen Gingiva
Zustand 21 nach Trauma 
Zustand 32 nach Trauma 
Mein Vorgehen der Reihe nach:
  • Tetanus Impfschutz geprüft
  • Röntgen- und Fotodokumentation – keine Muße, erstmal Weichteilblutung stoppen
  • Anästhesie, Wunde der Wange genäht
  • Röntgen muss noch warten, wir näheren uns der magischen 1h Grenze für die vitale Pulpa
  • Fragment einprobiert, Blutung und Schwellung macht ein sauberes Wiederankleben unter Koffersam unmöglich, also weiter ohne beides
  • Partielle Pulpotomie ca. 0,5 mm um evtl. infizierte Anteile abzutragen und MTA besser applizieren zu können
  • Angulus MTA appliziert und mit Flow Composite abgedeckt
  • Röntgen 32 und 21, keine Anhaltspunkte für Frakturen – „Glück“ gehabt
  • 21 mittels TTS geschient
  • Alles dokumentiert und Patientin für den kommenden Tag wieder einbestellt
Um es an dieser Stelle vorweg zu nehmen 21 und 32 weisen 1 Jahr nach dem Trauma (noch) keine Komplikationen auf, sind vital, nicht klopf- oder druckempfindlich, mit physiologischen Sondierungstiefen. 
Zustand 21, 30 Monate PostOp
Zustand 32, 30 Monate PostOp
Spannend war die Versorgung von 32. Ich entschied mich gegen die Fragmentbefestigung, da mir ein weit subgingival und unter kaum trockenhaltbaren Bedingungen befestigtes Bruchstück wenig erstrebenswert vorkam und zugleich meine PA Chirurgischen Fähigkeiten ausbaufähig sind. Da damit auch die Kronenverlängerung ausschied, blieb noch die KFO. Leider gab es in diesem Fall keinen via Multiband zu korrigierenden Engstand im UK. Also Magnetextrusion!? Ich bestellte Neodym Magnete 2x1mm und klebte einen mit Composite auf den Stumpf von 32. Das Gegenstück wurde in eine Aufbissschiene einpolymerisiert und die Patientin so in die Sommerferien geschickt. Wöchentlich erfolgte die Kontrolle und das Versetzen des Magneten in der Schiene um je 1mm.
Vom Zahntechniker hatte ich dafür Platzhalter drucken lassen, um die Magnete möglichst achsgerecht im Abstand von 1mm zueinander platzieren zu können. Eine Kunststoffpinzette aus dem Bastelbedarf war für die Handhabung unabdingbar. Nach 3 Wochen kam die vormals subgingivale „Präpgrenze“ isogingival zu liegen und es konnte für eine e.Max Krone abgeformt werden. Inzidiert habe ich dabei lediglich einmal nach 2 Wochen.
Bleibt wie bei jedem Trauma die Hoffnung, dass alles gut wird (bleibt).

„Endo für Vegetarier“

von Jens Emmelmann

Die Patientin hat sich in unserer Praxis für eine Drittmeinung betreffs ihres Zahnes 41 vorgestellt. WSR sowie Entfernung und Implantation mit GBR wurden ihr bereits angeboten. Die Implantation war für sie prinzipiell eine Option, als Vegetarierin schreckte sie aber das bovine Knochenersatzmaterial ab.

Anamnese und Diagnostik wiesen uns auf eine Endo-Paro-Läsion primär endodontalen Ursprungs hin. Die Füllung war wenige Monate alt und es gab Hinweise auf kurzeitige pulpitische Beschwerden. Der Zahn zeigte einen leicht erhöhten Lockerungsgrad war aber ansonsten derzeit beschwerdefrei. Die Patientin war nach Parotherapie im regelmässigen Recall.

Nach Beratung und Aufklärung wollte die Patientin mit Hinblick auf ihre Ablehnung des „Kuhknochens“ dem Zahn zumindest eine Chance geben.

Die endodontische Behandlung der zwei Kanalanteile verlief unproblematisch und bereits das postoperative Röntgenbild lies uns hoffen…

Mikroskop, Kamera und Fernsteuerung

von Oliver Schäfer

Ein häufig unterschätzter Vorteil des Mikroskopes ist die Möglichkeit dem Patienten das „Innere“ seines Zahnes zeigen zu können. Die Möglichkeit eine Wurzelbehandlung „live“ mitzuverfolgen und sich die kleinsten Details selbst anzuschauen, schätzen viele unserer Patienten sehr. Um es mit den Worten eines Patienten von heute zu sagen: „Schön mal zu sehen, was da eigentlich rumgewerkelt wird“.

Von einer Firma wie Zeiss sollte man erwarten, dass die in unserem OPMI pico eingebaute HD-Kamera in puncto Bildqualität dabei keine Wünsche offen lässt. Leider ist das Gegenteil der Fall. Zum einen ist das Sichtfeld im Okular des Behandlers größer als der Bildausschnitt der Kamera. Zum anderen ist die Tiefenschärfe derart unterschiedlich, dass das was via Varioskop „scharf“ gestellt ist, im Kamerabild leider verschwommen wirkt. Also Hände weg von der Einbaulösung und geschickt nachrüsten.

Einem Tipp von Georg Benjamin sei Dank, wechselten wir auf den CJ Kameraadapter mit einem Sony Alpha 6000 Body am Strahlenteiler des Okulars. Schärfe und Bildausschnitt passten sofort, ohne jegliche Einstellungen. Einige wenige Kameraeinstellungen später, waren auch Belichtung und Farbgebung sehr nah am Original. Danke an dieser Stelle an Herrn Ermerling von HanChaDent, der alle Einstellungen (auswendig!) übers Telefon durchsagen konnte.

SONY Alpha 6000 via CJ Adapter am ZEISS OPMI pico

Das vom Kamerabody kommende microHDMI Kabel konnten wir problemlos selbst durch den Arm des Mikroskopes verlegen, wobei lediglich 2 Blenden kurz abgenommen werden mussten. Die Firma TetherTools bietet mit CaseRelay eine verlängerbare Stromversorgung an, die ebenfalls durch den Arm bis zur nächsten verfügbaren Steckdose (bei uns unter der Decke) gezogen werden kann.

Die Kabelführung gelingt „innen“ im Mikroskoparm. Statt in die Zeiss Kamera, wird das Bild einfach via HDMI-HDMI Kupplung weitergeleitet

Um nicht eine weitere Fernbedienung zur Auslösung des Bodys im Sprechzimmer rumliegen zu haben, nutzen wir einen Adapter der Firma IRTrans. Diese kleine Kiste wird (wahlweise per USB oder Netzwerk) an den PC (oder in unserem Fall Mac) angeschlossen und kann im Stile einer Universalfernbedienung IR Codes lernen. Das schöne daran ist, dass sich so im Stile eines Smarthome Szenen programmieren lassen. Mit einem Klick können alle benötigten (Fernseh-)Monitore eingeschaltet, der richtige HDMI Eingang ausgewählt und nach Ende der Behandlung auch wieder ausgeschaltet werden. Ebenso konnten wir die Fernbedienung des Kamerabodys einlernen und können jetzt über den Rechner Schnappschüsse auslösen.

MAGEWELL Capture HDMI Plus: Eingang für HDMI-Signal vom Mikroskop auf der rechten Seite, Ausgang via USB3 auf der linken Seite im Bild. Zusätzlich ist eine Art HDMI Doppler verbaut, um das Eingangssignal bspw. zu einem Monitor durchschleifen zu können.

IR Trans Funksender zur Fernbedienung über den PC. Beide Kisten sind klein genug, um hinter der Möbelzeile zu verschwinden.

Der eigentliche Funksender ist so platziert, dass er die Monitor und die Kamera „sehen“ kann. In der Wand läuft das entsprechende Kabel zur IR-Trans Box unter die Hinterkopfzeile.


Um das HDMI-Signal der Kamera für eine weitere Verarbeitung im Rechner verfügbar zu machen, landeten wir nach einigen Misserfolgen beim Adapter von Magewell (Capture HDMI Plus). Diese unscheinbare Box „konvertiert“ HDMI zu USB 3 und unterstützt Auflösungen bis 4K. Das robuste Metallgehäuse ist klein und lässt sich in jeder Hinterkopfzeile verstecken. Weitere Treiber oder Software sind nicht nötig. Abstürze wie bei den Blackmagic Produkten sind bei uns noch nie vorgekommen. Für den Rechner scheint es schlicht als wäre eine zusätzliche Webcam angeschlossen. In Verbindung mit einem Mac und der Facetime App, wären so sogar Videokonferenzen/Webinars/Konsile mit Mikroskopbild denkbar.

Standbild aus dem HDMI-Stream links versus Standbild mit der Sony Kamera rechts


So kann Digitalisierung im Gesundheitswesen doch noch Spaß machen. Bitte nicht Jens Spahn verraten.

Grundrechtsaushöhlung – Ein Sündenfall.

Ein Gastbeitrag von Thomas Weber

In Deutschland wird als „Recht auf informationelle Selbstbestimmung“ der Anspruch des Einzelnen verstanden, grundsätzlich selbst „über die Preisgabe und Verwendung seiner personenbezogenen Daten zu bestimmen“. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist zwar im Grundgesetz nicht explizit als solches benannt, wurde aber vom Bundesverfassungsgericht  aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) entwickelt und versteht sich als deren besondere Ausprägung. Es ist also ein Grundrecht, kein Gnadenrecht.

An erster Stelle unserer Verfassung stehen Wert und Würde der Person. Ihrem Schutz dient – neben speziellen anderen Freiheitsverbürgungen, die in den Artikeln 1 – 20 des GG behandelt werden – das in Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG gewährleistete allgemeine Persönlichkeitsrecht, das gerade auch im Blick auf moderne Entwicklungen und die mit ihnen verbundenen neuen Gefährdungen der Persönlichkeit Bedeutung gewinnt. Es umfasst auch die aus dem Gedanken der Selbstbestimmung folgende Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden.

Der Jurist Carlos A. Gebauer hat das für Gesundheitsdaten so formuliert:

„In meinem Weltbild geht es niemanden etwas an, unter welchen Krankheiten ich leide – es sei denn, ich sage es ihm. Dass Informationen über Körper- und Geisteszustände eines Menschen ein wie auch immer geartetes „Allgemeingut“ sein könnten, auf das andere als der Betroffene ohne oder gar gegen seinen Willen digitalen Zugriff haben, halte ich für eine rechtsethische Entgleisung. Gerade Zeiten der informationstechnisch jederzeit mindestens potentiellen Ubiquität von persönlichen Informationen (vulgo: Berichten über Intimes und Privates) erfordern, den Geheimnisschutz und den Vertrauensschutz zwischen Patienten und Ärzten nach allen Möglichkeiten zu intensivieren. Wer „der Allgemeinheit“ ein Recht zuweisen möchte, ungebeten Körperdaten anderer zu erheben und über das damit gewonnene Wissen zu herrschen, der verletzt m.E. den heiligsten Grundsatz, den die verfassungsrechtliche Juristerei zu hüten hat: Das Verbot, ein Individuum zum Objekt des Willens anderer zu machen. Die Menschenwürde hat unantastbar zu sein.“

Beitrag Carlos A. Gebauer, 29.07.2019, aend.de, https://www.aend.de/forum/topic/100612#924303

Nach Ansicht des Europäischen Parlaments leitet sich das Recht auf informationelle Selbstbestimmung zudem aus Art. 8 Abs.1 der Europäischen Menschrechts-konvention ab:  

Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat– und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.

Vorgestern hat der Deutsche Bundestag nun beschlossen, dem SGB V einen neuen Paragraphen 303b einzufügen: 

„§ 303b   Datenzusammenführung und -übermittlung

(1) Für die in § 303e Absatz 2 genannten Zwecke übermitteln die Krankenkassen an den Spitzenverband Bund der Krankenkassen als Datensammelstelle für jeden Versicherten jeweils in Verbindung mit dem unveränderlichen Teil der einheitlichen Krankenversichertennummer des Versicherten nach § 290 oder einer anderen krankenkassenübergreifend eindeutigen Identifikationsnummer des Versicherten (Versichertenkennzeichen)

1. Angaben zu Alter, Geschlecht und Wohnort,

2. Angaben zum Versicherungsverhältnis,

3. die Kosten- und Leistungsdaten nach den §§ 295, 295a, 300, 301, 301a und 302,

4. Angaben zum Vitalstatus und zum Sterbedatum und

5. Angaben zu den abrechnenden Leistungserbringern.

Das Nähere zur technischen Ausgestaltung der Datenübermittlung nach Satz 1 regelt der Spitzenverband Bund der Krankenkassen spätestens bis zum 31. Dezember 2021.

(2) Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen führt die Daten nach Absatz 1 zusammen, prüft die Daten auf Vollständigkeit, Plausibilität und Konsistenz und klärt Auffälligkeiten jeweils mit der die Daten liefernden Stelle.

(3) Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen übermittelt

1. an das Forschungsdatenzentrum nach § 303d die Daten nach Absatz 1 ohne das Versichertenkennzeichen, wobei jeder einem Versichertenkennzeichen zuzuordnende Einzeldatensatz mit einer Arbeitsnummer gekennzeichnet wird,

2. an die Vertrauensstelle nach § 303c eine Liste mit den Versichertenkennzeichen einschließlich der Arbeitsnummern, die zu den nach Nummer 1 übermittelten Einzeldatensätzen für das jeweilige Versichertenkennzeichen gehören.

Die Angaben zu den Leistungserbringern sind vor der Übermittlung an das Forschungsdatenzentrum zu pseudonymisieren. Das Nähere zur technischen Ausgestaltung der Datenübermittlung nach Satz 1 vereinbart der Spitzenverband Bund der Krankenkassen mit den nach § 303a Absatz 1 Satz 2 bestimmten Stellen spätestens bis zum 31. Dezember 2021.

(4) Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen kann eine Arbeitsgemeinschaft nach § 219 mit der Durchführung der Aufgaben nach den Absätzen 1 bis 3 beauftragen.“

Quelle: Bundestags-Drucksache 19/13438 https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/Gesetze_und_Verordnungen/GuV/D/DVG_Bundestag.pdf

Eine Einwilligungsverpflichtung oder ein Widerspruchsrecht des Patienten zu dieser Datenübermittlung ist nicht vorgesehen. 

Immerhin haben Proteste der Datenschützer, vieler Ärzte und Ti-Gegner in den letzten Tagen noch erreicht, dass bereits die Krankenkassen ein versichertenbezogenes Lieferpseudonym zu verwenden haben, das eine kassenübergreifende eindeutige Identifikation des Versicherten ermöglicht. Die Vertrauensstelle, die gesetzlich dem Sozialgeheimnis unterliegt, überführt dieses Lieferpseudonym in ein periodenübergreifendes einheitliches Pseudonym.

Allerdings ist erwiesen, dass eine Pseudonymisierung oder Anonymisierung von Daten relativ leicht rückgängig zu machen ist, und erst im Juli hatte die SZ darüber berichtet. (https://www.sueddeutsche.de/digital/anonyme-daten-studie-1.4542458 und dazu:  https://www.nature.com/articles/s41467-019-10933-3).

Somit wird dieses Gesetz zu einer massiven Einschränkung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung, zu einer „rechtsethischen Entgleisung“. 

Der frühere Amtsarzt und ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete Dr. Wolfgang Wodarg, Mitglied des Vorstandes von Transparency International Deutschland e.V, schreibt dazu in einem offenen Brief an den Bundespräsidenten: 

Angesichts der bisherigen streng an der Verfassung ausgerichteten Praxis im Datenschutzrecht ist diese Gesetzgebung ein Staatstreich.“ 

Der sehr lesenswerte Brief findet sich im Ganzen hier: https://www.wodarg.com/

Wie immer man selbst dieses Gesetz beurteilen mag, es folgt der von Jens Spahn seit Jahren öffentlich vertretenen Maxime: „Datenschutz ist was für Gesunde.“

De facto haben wir also hier gläserne Patienten und zugleich gläserne „Leistungserbringer“. Und genau das scheint der Zweck dieser Bestimmung.

Dieser Eindruck wird durch zahlreiche Statements von Politikern bestätigt. So findet der Unionspolitiker und Jurist Tino Sorge, MdB, Mitglied im Ausschuss für Gesundheit (Berichterstattung Digitalisierung und Gesundheitswirtschaft der CDU/CSU-Bundestagsfraktion):

„Wir müssen nicht nur die Daten schützen, sondern die Patienten. Aktuell droht das Totschlag-Argument des Datenschutzes die elektronische Patientenakte mit all ihren Vorteilen auszubremsen. ……… Daten können hier Leben retten. Datenschutz nicht.“ 

Und so scheint Niccolò Machiavelli wieder Einzug in die deutsche Politik zu finden: „Lo scopo santifica i mezzi – Der Zweck heiligt die Mittel“.  

Das stimmt mich traurig und zugleich wütend. Vor 30 Jahren fiel die Mauer, auch sie ein Ergebnis der „Zweck-heiligt-Mittel“-Denke. Daran mag man ermessen, wie groß der politische Sündenfall im DVG im Prinzip ist. 


„Lieber Thomas, Datenschützer schützen keine Daten, sondern Menschen. Nicht aufgeben, es lohnt sich.“ schrieb mir Katharina Nocun als Widmung in ihr im letzten Jahr erschienenen Buch: „Die Daten, die ich rief –  Wie wir unsere Freiheit an Großkonzerne verkaufen“. Ein lesenswertes Buch übrigens. 

Und das stimmt. Denn Herr Sorge und Herr Spahn irren: Datenschutz ist auch was für Kranke. Geleakte oder gehackte Gesundheitsdaten können Lebensplanungen über den Haufen werfen, Berufsausbildungen verhindern, Karrieren vernichten, Versicherungen und Kredite unmöglich machen, Menschen stigmatisieren, diskriminieren und in die Verzweiflung treiben.

Und deshalb sind Ärzte Datenschützer:  Sie schützen die Gesundheitsdaten ihrer Patienten seit mindestens 2500 Jahren – und sie sollten jetzt nicht damit aufhören.