Fallgrube

von Ronald Wecker

Eigentlich schien es eine sehr vorhersagbare Revisionsbehandlung zu werden:


Die beiden mesialen Kanalsysteme waren bereits im präoperativen Röntgenbild zu identifizieren. Von den mindestens zu erwartenden drei Kanalsystemen waren nur zwei obturiert worden, sofern man die mesiale Wurzelfüllung als Obturation bezeichnen mag.

Das periapikal der distalen Wurzel befindliche Obturationsmaterial erachtete ich als nicht entfernbar und mesial schien es ein Selbstläufer zu sein. Denkste.

Zunächst einmal wurde ein erheblicher Teil des Pulpakammerdaches mit darunter befindlichen Geweberesten entfernt. Die trocken eingesetzten Munce-Rosenbohrer hinterliessen mesial gleich zwei potentielle Kanaleingänge, sodass es zwischenzeitlich nach drei mesialen Kanalsystemen aussah.

Die nach vorsichtiger Entfernung des mesial vorhandenen Wurzelfüllmaterials eingebrachte Handfeile ISO 008 gab eine, nach dem präoperativen Röntgenbild unerwartete harte taktile Rückmeldung. Auch nach mehrfachen Vorbiegen in alle in Frage kommenden Richtungen war mesiobukkal kein weiterer Kanalverlauf zu ertasten.

Also zunächst das bis dahin unaufbereitete mesiolinguale Kanalsystem erkundet. Dieses wies einen sehr stark nach bukkal gekrümmten Kanalverlauf auf und war im apikalen Drittel stark obliteriert. In der angefertigten ersten Messaufnahme erschien das unter endometrischer Kontrolle eingebrachte Instrument ein wenig zu lang zu sein. Nach weiterer Aufbereitung von ML zeigte sich nach einigen ultraschallunterstützen „Spüldurchgängen“ ein Austausch der Spülflüssigkeiten zwischen MB und ML. Der in den für MB gehaltenen Kanaleingang eingebrachte Microopener schien zwar in der orthograd ausgeführten zweiten Röntgenmessaufnahme einigermassen mittenzentriert zu liegen, war jedoch deutlich zu kurz.

Was nun?

Nach dem präoperativen Bild zu urteilen musste sich apikal der alten Wurzelfüllmasse ein sondierbarer Kanalabschnitt befinden. Er war auch da. Allerdings erst als solcher zu erkennen, als ich das mesiobukkale Kanalorificium mit einer Endosonore-Feile moderat in Richtung des ML erweitert hatte.

Ein stark nach lingual vorgebogener Microopener konnte ca. 1,5 bis 2 mm Millimeter in den Originalkanal eingeführt werden. Nach einiger Zeit des Bearbeitens mittels vorgebogener Handinstrumente gelang es eine gerade ProFile 15/04 rotierend in den MB einzubringen. Bei 18mm jedoch war wieder Schluss. Hier half wieder ein Sprung „zurück“ zu einer auf den vordersten 3 mm vorgebogenen ISO 008 Handfeile. Nach mehrmaligem Versuchen glitt sie reproduzierbar und endometrisch kontrolliert auf 0,0.

Des Rätsels Lösung:

Der als unvollständig gefüllte mesiobukkal gefüllte Kanalanteil war in Wahrheit eine wunderschöne Via falsa der vorherigen Behandlung.

Der eigentliche Kanal lag an der lingualen Wand versteckt und krümmte sich bereits zu Beginn deutlich nach lingual. 3 mm vor dem Foramen konfluierten MB und ML recht spitzwinkelig und endeten in einem gemeinsamen Foramen, wie das distal exzentrisch angefertigte Röntgenbild nach Obturation erkennen lässt.

Die Lehre daraus:

– Bereits präoperativ exzentrische Aufnahmen anfertigen.

– Sich merken, dass wenn bei Unterkiefer-Molaren z.B. der mesiolinguale Kanal eine starke Krümmung nach bukkal aufweist, dies dann häufig auch im mesiobukkalen Kanal, nur in umgekehrter Weise, also nach lingual gekrümmt, anzutreffen ist.

Und meine wichtigste Erkenntnis: Das Bärenfell erst verkaufen, wenn der Bär erlegt ist.