Wie sag‘ ich’s nur dem Kinde?

von Jörg Schröder

Mehr als 90 % meiner endodontischen Tätigkeit besteht aus „Redentistry“ der neudeutsche Begriff von „Wiederholungszahnheilkunde“.

Die wenigen Erstbehandlungen kann ich im Monat an den Fingern einer Hand abzählen.

Insofern bin ich hinsichtlich von im Verlauf der Vorverhandlung eingetretenen Komplikationen einiges gewohnt.

Der nachfolgende Fall hat aber auch bei mir ein heftiges Fremdschämen ausgelöst.

Der Patient zeigte bereits nach den ersten Erläuterungen (Zahn 15, nicht aufbereitetes Kanalsystem, 23 WSR ohne WF, via falsa, dislozierte retrograde „Füllung“) bereits deutliche Zeichen von Verunsicherung. Sein von ihm so hoch eingeschätzter Hauszahnarzt hatte die Behandlungen durchgeführt und das, was ich wertungsfrei vortrug, passte so gar nicht ins bestehende Bild.

Und da war der Befund an Zahn 16 noch nicht erläutert!

Wird uns Zahnärzten diese „Ich-kann-alles“-Mentalität im Studium vermittelt? Wo wurde verpasst zu erklären, dass Kooperation mit spezialisiert arbeitenden Praxen kein ehrenrühriges Eingeständnis von Unvermögen ist. Und wenn das Nicht-Überweisen ein Zeichen von Unvermögen wäre, was ist dann das, was hier als Zwischenergebnis herausgekommen ist?

Dass ein 15, der im Einzelbild zwar zwei Wurzelkonturen zeigt, auch schon einmal ein zweites Kanalsystem aufweisen kann, sollte heutzutage allgemein verfügbares Zahnarztwissen sein. Den palatinalen Kanal nicht gefunden? Geschenkt. Hier wurde der Zahn nicht kompromittiert und eine Revisionsbehandlung ist problemlos möglich.

Ein stark obliteriertes Pulpakavum in einem oberen Eckzahn? Kann schon vorkommen. Nach dem halben Verschluss der mit Sicherheit als solche erkannten Via falsa den Zahn noch selbst zu resizieren, ohne dass es eine Wurzelfüllung  gibt, zeugt schon von besonderem Selbstbewusstsein. Lässt aber auch jedes endodontologisches Basiswissen vermissen. Die schwebende retrograde „Füllung“ setzt dem Ganzen noch die Krone auf. Aber: auch hier ist eine erfolgreiche endodontische Behandlung noch möglich.

Dass das Drauflosbehandeln ohne großen Plan jedoch Methode zu haben scheint, lässt der 16 erkennen. Eine perfekt in den Pulpakammerboden angelegte Perforation und dabei keinen der stark obliterierten Kanäle auch nur angekratzt zu haben spricht Bände.

Wo bleibt hier das Patientenwohl?

Glücklicherweise ist der Vorbehandler keiner unserer Überweiser. Der Patient wurde von einem selbst spezialisiert arbeitenden Kollegen zur dreidimensionalen Diagnostik an uns überwiesen.

So bleibt mir wenigstens ein sehr diplomatisch gehaltener Befundbericht erspart.

 

 

 

Die nächste Welle (I)

Von Bonald Decker

Vor zwei Wochen habe ich über die Drei-Strikes-Phase in unserer Praxis berichtet, in der wir aktuell Anhäufungen multipler Fehlschläge der selben Art innerhalb eines Zahnes beobachten.

Mit Bedauern muss ich feststellen, dass bei uns gerade die nächste Welle angerollt ist…

die der Zähne mit Perforationen.

„Beeindruckt“ bin ich von den unterschiedlichen Erscheinungs- und Entstehungsformen dieser Verletzungen. Hier also die ersten Eindrücke anhand von Röntgenbildern und Fotos.

Fall I:

Fall I: Zustand nach Trepanation des Zahnes 16 im zahnärztlichen Notdienst; Zuweisung durch Hauszahnarzt nach Feststellung einer intrakoronalen Perforation

Fall I: Situation intra-operativ: provisorischer Verschluss der Zugangskavität und intrakoronale Blutung unklarer Herkunft

Fall I: Defektdarstellung und provisorischer Verschluss der tatsächlichen Kanaleingänge mittels Guttapercha nach medikamentöser Einlage ; Situation nach MTA-Applikation und Kunststoffabdeckung

Fall II:

Fall II: Zuweisung mit Bitte um Weiterbehandlung nach vergeblicher Kanalsuche disto-bukkal mit Perforation und bereits erfolgter Wurzelkanalfüllung palatinal

Fall II: Intra-operative Situation nach Defektdarstellung bzw. Lokalisation des tatsächlichen disto-bukkalen Systems

Fall III:

Fall III: Zustand nach alio loco durchgeführter Wurzelkanalfüllung Zahn 47 und nachfolgendem  Revisionsversuch bei rekurrierenden Beschwerden; Nebenbefund: V.a. Radix relicta Regio 48

Fall III: Stripperforation mesio-bukkal bei forciertem Entfernungsversuch des Wurzelfüllmaterials

Fall IV:

Fall IV: alio loco angefertigte „Messaufnahme“ bei Zahn 23 mit ausgeprägter apikaler Parodontitis

Fall IV: Screenshot des prä-operativ angefertigten DVTs; bukkale Via falsa mit vestibulärer Perforation

 

Fall IV: Messaufnahme nach endometrischer Längenbestimmung des tatsächlichen Kanalsystems

Und dieser Patient mit folgender Situation hat nächste Woche einen Termin:

Fall V: Alio loco angefertigte „Messaufnahme“ nach vermuteter Perforation des Pulpakammerbodens

„Gefühlt“ haben wir aktuell so viele solcher Fälle wie sonst in sechs bis zwölf Monaten.

Über die genauen Behandlungsabfolgen der einzelnen Situationen berichte ich in den kommenden Beiträgen zu dieser „Welle“… “

 

2D vs. Extraktion

von Sebastian Riedel

In der Regel dauert ein Termin zur endodontischen Beratung in unserer Praxis 30 Minuten:

Es werden die relevanten klinische Befunde erhoben, Röntgenaufnahmen angefertigt, die  für eine erfolgreiche endodontische Therapie notwendigen Massnahmen erläutert und abschliessend die Risiken der geplanten Therapie sowie mögliche Behandlungs-alternativen ausführlich besprochen.

Als sich dieser Patient vor zwei Tagen wegen Beschwerden in Region 26/27 vorstellte, ging es schneller.

Laut Patientenaussage wurde 26 im Jahr 2001 resiziert, etwa zur gleichen Zeit, wurde an Zahn 27 eine Wurzelbehandlung durchgeführt. Seitdem schmerzt es im linken Oberkiefer immer wieder, vor allem nach der professionellen Zahnreinigung hat der Patient eine Woche andauernde, meist heftige Schmerzen. Seit 2001.

Klinisch konnte bukkal an 27 mit der PA-Sonde bis zum Apex sondiert werden, der Zahn war deutlich beweglich. Zur Beurteilung der Periapikalregionvon 26 und 27 wurde ein zweidimensionales Röntgenbild angefertigt.

Der Befund war so eindeutig, dass ich in meiner Erläuterung keinen Zweifel daran ließ, dass es keinerlei zahnerhaltende Maßnahmen gäbe; ich schlug die Extraktion vor.

Gestern konnte ich den Zahn entfernen, und eine Überraschung kam damit zum Vorschein: Schmerzen nach der Prophylaxe sind bei dem Befund nachvollziehbar, man erkennt sehr gut die durch die Bearbeitung der Wurzeloberfläche entstandene Mulde bukkal. Die Via falsa in dieser Ausprägung war im zweidimensionalen Bild überhaupt nicht zu vermuten !

Meine Ankündigung, der Patient werde mit großer Wahrscheinlichkeit nach Entfernung des Zahnes eine gesundheitliche Entlastung erfahren, war dann auch für ihn nachvollziehbar. Ein Gespräch mit dem seit Jahren behandelndem Kollegen bahnt sich an…

Hätt´s dafür ein DVT gebraucht ?

von Donald Becker

In der letzten Woche erreichte mich eine private Email zu diesem DVT, dass der WURZELSPITZE- Autor Ronald Wecker hier im Blog vorgestellt hatte.

Der Schreiber fragte: „hallo hawi, wäre das vorgehen auch ohne dvt nicht das gleiche gewesen? ohne zusätzliche strahlung, ohne extra-kosten?“

Wenn es nicht er eigene Fall ist, dann ist es schwierig, diese Frage erschöpfend zu beantworten. Ich versuchs trotzdem.
Hätte man diesen Zahn ohne DVT  behandeln können ?
Ich denke schon.

Hätte ich gerne hier ein DVT gehabt ?
Vermutlich.
Weil ich weiss, was mir das DVT in einem solchen Falle an zusätzlichen Informationen bringen könnte.

Und ich fühle mich zurückerinnert.
An die Zeit vor gut 10 Jahren.
Mit dem Aufkommen des Dentalmikroskops hatten wir nämlich eine ähnliche Situation. Dem fertigen Röntgenbild nach einer WF sieht man nämlich nicht an, dass der mit dem Mikroskop entdeckte 4. Kanal ohne dieses nicht gefunden worden wäre.

Das Endergebnis, die Wurzelfüllung, mutet unspektakulär an.
Der Weg dort hin war trotzdem steinig.

Auch damals wurde der Ruf laut, für diese Dinge brauche man doch kein Mikroskop.
Der Behandler, der  beide Verfahren (mit und ohne Mikroskop)  aus eigener Praxis kannte, er wusste, dass dies ein Irrglaube war, dass er den Zahn ohne Dentalmikroskop nie in gleicher Form hätte behandeln können.

Und jetzt das DVT ?
Geht es nur mit oder doch ohne ? Das ist hier die Frage.

Anbei ein Fall von letzter Woche, wo mir das DVT eine entscheidende Hilfe war.
Ohne DVT wäre es mir schwergefallen, diesen Fall so zu behandeln, wie ich es dann letztendlich getan habe.

Die Situation: Symptomatischer Zahn 17,  Palatinaler Fistelgang in Regio 16,17. Der Zahn 15 war vor circa einem Jahr wurzelkanalbehandelt worden, der Zahn 16 irgendwann danach  auf Grund eines eitrigen Entzündungsprozesses verloren gegangen.
Drohte dem Zahn 17 jetzt das gleiche Schicksal ?

Nach Trepanation zeigen sich die bukkalen Kanäle 18,5 mm bzw. 19 mm lang.
Im palatinalen Kanal ( alio loco vorbehandelt ?) zeigt das ROOT ZX -Gerät ebenso wie das Raypex 6- Gerät bei 14,5 mm Apex.
Vermutet hätte ich hier  eher 19 – 21 mm.
Was war hier los ?
Via Falsa ?
Großer Seitenkanal ?

Keine Ahnung ???
Das Kanalumen, mit dem DM gut zu sehen,  war ziemlich  groß. Überdurchschnittlich groß.
In den Röntgenbildern, die vorlagen, und die im Laufe der Behandung hinzukamen, gab es keine Hinweis auf die Ursache dieses Phänomens.
Auch ein Paperpoint – Test blieb unbefriedigend.

Das durchgeführte DVT (mit röntgenopaker Calciumhydroxid- Einlage nach definitiver Aufbereitung) zeigte dann, dass in der Tat die palatinale Wurzel deutlich kürzer war als die beiden bukkalen.

Vermutlich ein Resorptionsprozess, dessen Knochendestruktion auch in diesem Falle von den Zahnfilmen her in seinem wahren Ausmaß nur zu erahnen gewesen und definitiv in dieser Grösse von mir nicht vermutet worden wäre.

Nachdem feststand, dass die palatinale Wurzel in der Tat deutlich kürzer war als die beiden anderen, wurde in der auf das DVT folgenden Behandlungssitzung die WF durchgeführt.
Der Zahn war seit unserer Erstbehandlung beschwerdefrei, die Fistel war zwischenzeitlich verschwunden.

Fallgrube

von Ronald Wecker

Eigentlich schien es eine sehr vorhersagbare Revisionsbehandlung zu werden:


Die beiden mesialen Kanalsysteme waren bereits im präoperativen Röntgenbild zu identifizieren. Von den mindestens zu erwartenden drei Kanalsystemen waren nur zwei obturiert worden, sofern man die mesiale Wurzelfüllung als Obturation bezeichnen mag.

Das periapikal der distalen Wurzel befindliche Obturationsmaterial erachtete ich als nicht entfernbar und mesial schien es ein Selbstläufer zu sein. Denkste.

Zunächst einmal wurde ein erheblicher Teil des Pulpakammerdaches mit darunter befindlichen Geweberesten entfernt. Die trocken eingesetzten Munce-Rosenbohrer hinterliessen mesial gleich zwei potentielle Kanaleingänge, sodass es zwischenzeitlich nach drei mesialen Kanalsystemen aussah.

Die nach vorsichtiger Entfernung des mesial vorhandenen Wurzelfüllmaterials eingebrachte Handfeile ISO 008 gab eine, nach dem präoperativen Röntgenbild unerwartete harte taktile Rückmeldung. Auch nach mehrfachen Vorbiegen in alle in Frage kommenden Richtungen war mesiobukkal kein weiterer Kanalverlauf zu ertasten.

Also zunächst das bis dahin unaufbereitete mesiolinguale Kanalsystem erkundet. Dieses wies einen sehr stark nach bukkal gekrümmten Kanalverlauf auf und war im apikalen Drittel stark obliteriert. In der angefertigten ersten Messaufnahme erschien das unter endometrischer Kontrolle eingebrachte Instrument ein wenig zu lang zu sein. Nach weiterer Aufbereitung von ML zeigte sich nach einigen ultraschallunterstützen „Spüldurchgängen“ ein Austausch der Spülflüssigkeiten zwischen MB und ML. Der in den für MB gehaltenen Kanaleingang eingebrachte Microopener schien zwar in der orthograd ausgeführten zweiten Röntgenmessaufnahme einigermassen mittenzentriert zu liegen, war jedoch deutlich zu kurz.

Was nun?

Nach dem präoperativen Bild zu urteilen musste sich apikal der alten Wurzelfüllmasse ein sondierbarer Kanalabschnitt befinden. Er war auch da. Allerdings erst als solcher zu erkennen, als ich das mesiobukkale Kanalorificium mit einer Endosonore-Feile moderat in Richtung des ML erweitert hatte.

Ein stark nach lingual vorgebogener Microopener konnte ca. 1,5 bis 2 mm Millimeter in den Originalkanal eingeführt werden. Nach einiger Zeit des Bearbeitens mittels vorgebogener Handinstrumente gelang es eine gerade ProFile 15/04 rotierend in den MB einzubringen. Bei 18mm jedoch war wieder Schluss. Hier half wieder ein Sprung „zurück“ zu einer auf den vordersten 3 mm vorgebogenen ISO 008 Handfeile. Nach mehrmaligem Versuchen glitt sie reproduzierbar und endometrisch kontrolliert auf 0,0.

Des Rätsels Lösung:

Der als unvollständig gefüllte mesiobukkal gefüllte Kanalanteil war in Wahrheit eine wunderschöne Via falsa der vorherigen Behandlung.

Der eigentliche Kanal lag an der lingualen Wand versteckt und krümmte sich bereits zu Beginn deutlich nach lingual. 3 mm vor dem Foramen konfluierten MB und ML recht spitzwinkelig und endeten in einem gemeinsamen Foramen, wie das distal exzentrisch angefertigte Röntgenbild nach Obturation erkennen lässt.

Die Lehre daraus:

– Bereits präoperativ exzentrische Aufnahmen anfertigen.

– Sich merken, dass wenn bei Unterkiefer-Molaren z.B. der mesiolinguale Kanal eine starke Krümmung nach bukkal aufweist, dies dann häufig auch im mesiobukkalen Kanal, nur in umgekehrter Weise, also nach lingual gekrümmt, anzutreffen ist.

Und meine wichtigste Erkenntnis: Das Bärenfell erst verkaufen, wenn der Bär erlegt ist.