Kleines Wunder?

Von Bonald Decker

Der Wunsch nach „Zahnerhalt mit allen Mitteln“ bei zum Teil hoffnungslosen Fällen wird von Patienten (und Zuweisern) regelmässig geäussert. Nachfolgend möchte ich Ihnen in dem heutigen Beitrag einen solchen Patientenfall vorstellen.

Im Sommer 2012 wurden wir gebeten eine Einschätzung zur Prognose eines Zahnes 12 vor geplanter kieferorthopädischer Behandlung abzugeben. Die damals 11-jährige „Besitzerin“ des Zahnes gab (im Beisein ihre Mutter) an, dass sie vor einigen Jahren einen Schulunfall erlitten habe. Hierdurch sei der kleine rechte obere Schneidezahn in Richtung Gaumen verschoben worden. Ferner habe das Zahnfleisch in dieser Gegend stärker geblutet.

Laut weiterer Anamnese sei der Zahn daraufhin von einem Zahnarzt wieder in Position gedrückt und für einige Zeit geschient worden. Eine weitere Therapie schloss sich nach Schienenentfernung nicht an. Im Zuge einer kieferorthopädischen Erstuntersuchung im Sommer 2012 sei dann aufgefallen, dass der beschriebene Zahn eine sehr kurze Wurzel aufweisen würde. Weitere Angaben liessen sich nicht erheben.

Alio loco angefertigtes OPG vor geplanter KFO-Behandlung

Alio loco angefertigtes OPG vor geplanter KFO-Behandlung

Anhand des alio loco angefertigten OPGs bestand der Verdacht, dass damals eine horizontale Wurzelfraktur vorlag, wobei sich die beiden Fragmente stark disloziert darstellten.

Bei unserer klinischen Untersuchung zeigte Zahn 12 einen Lockerungsgrad II bei unauffälligen Taschensondierungswerten. Die Sensibilitätstestungen waren nicht aussagekräftig. Dafür der radiologische Befund umso mehr:

Einzelzahn-Röntgenaufnahme Regio 12 bei Z.n. Frontzahntrauma mit nachfolgender Wurzelresorption

Einzelzahn-Röntgenaufnahme Regio 12 bei Z.n. Frontzahntrauma mit nachfolgender Wurzelresorption

Radiologisch macht es den Anschein, dass die klinische Krone einzig von einem kleinen mesialen Wurzelanteil noch in situ „gehalten“ wird. Mit etwas „Phantasie“ erkennt man ferner noch die stark resorbierten apikalen Wurzelanteile.

Meine Empfehlung fiel damals daher eindeutig aus. Unter keinen Umständen sollte der Zahn kieferorthopädisch bewegt werden. Ferner machte ich Kind und Mutter wenig Hoffnung auf einen (langfristigen) Zahnerhalt.

Vorgestern stellte sich die junge Patientin gemeinsam mit ihrer Mutter erneut vor, um die Situation neu bewerten zu lassen. Ihrem eigenen Empfinden nach gab die nun 12-Jährige an, dass der Zahn (subjektiv) fester geworden sei und sie keine Einschränkungen in der täglichen Nutzung empfand.

Die klinischen Untersuchungsergebnisse unterschieden sich nicht signifikant von denen im Sommer 2012. Einzig der Zahnbeweglichkeit war nun Grad I(-II). Richtig erstaunt war ich dann beim Anblick des aktuellen Röntgenbildes:

Situation 9 Monate nach Erstuntersuchung; es scheint als wäre eine knöcherne Einsprossung in die klinische Krone erfolgt

Situation 9 Monate nach Erstuntersuchung

9 Monate nach unserer Erstuntersuchung scheint es, als wäre es zu einer Art knöchernen „Einwachsung“ in die klinische Krone gekommen. Klinisch und radiologisch gab es keine akuten Entzündungszeichen.

Für mich ein „kleines Wunder“ dessen Nachhaltigkeit ich nicht abschätzen kann. Aber mit jedem Monat oder Jahr, die dieser für mich zunächst schier hoffnungslose Zahn weiter problemlos und funktionstüchtig im Mund verbleiben kann, ist viel gewonnen.

Von dem Wunsch der jungen Patientin nach „perfekter“ kieferorthopädischer Einordnung des Zahnes in den Zahnbogen habe ich dennoch abgeraten. Man sollte sein Glück nicht herausfordern.

Ich bin gespannt, wie es weitergeht…