von Thomas Weber
Christian Danzl berichtete im Februar über die Prognose eines Wirtschaftswissenschaftlers zum deutschen Gesundheitswesen, der ganz klar die weiteren zu erwartenden Veränderungen im Gesundheitswesen formulierte: Es wird mehr und mehr zentrale Versorgungszentren (MVZ) geben, die Zahnheilkunde wird – zumindest teilweise – langsam aus dem System der gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) ausgegliedert werden, der Beitragssatz der GKV wird, um kostendeckend zu sein, auf ca. 25% steigen müssen, die privaten Krankenversicherer (PKV) werden die Vergütung weiter senken und bei PKV und GKV wird der Trend zu Einzelverträgen gehen und dadurch der Verdrängungswettbewerb stärker werden
Die Analyse ist sehr treffend, denn wir erleben ja bereits das Meiste des Prognostizierten schon heute. Mir fehlt dabei eigentlich nur noch der zu erwartende weitere Anstieg der Mehrwertsteuer um bis zu 3 weiteren Prozentpunkten.
Was wäre dagegen zu tun?
Wie so oft lohnt sich für das Verstehen der Gegenwart der Blick in die Geschichte.
Von jeher war Heilbehandlung Vertrauenssache.
Zunächst vertraute der Patient zu allen Zeiten darauf, sein Arzt werde ihm die „bestmöglich machbare“ Diagnostik und Therapie gegen seine Krankheit bzw. für seine Gesundheit angedeihen lassen.
Das Behandeln nach bestem Wissen und Gewissen ist eine Kernthese des in diesem Kontext immer wieder gern zitierten „Hippokratischen Eides“. Nun klafft heute –2.500 Jahre nach den glücklichen Zeiten des Hippokrates von Kos – eine breite Kluft zwischen dem „Bestmöglichen“ und dem „Machbaren“.
Hippokrates kannte noch keine GKV, keine Chipkarte, keinen EBM, keine BEMA, keine GOÄ oder GOZ.
Er hielt sein Leben und seine Kunst „rein“ und „heilig“ und therapierte allein seiner Kunst und dem Patienten verpflichtet. Dass der Patient auch eine adäquate Gegenleistung zu erbringen hatte, war so selbstverständlich, dass man im berühmten Eid eben keine Silbe über „Gebührenordnung“, „Honorarverteilungsmaßstäbe“ oder Steigerungsfaktoren findet. Der Patient „honorierte“ den Arzt nach dessen Bemühungen. Denn Gesundheit (ein fürwahr hohes Gut, aber nach Meinung vieler Philosophen und Theologen damals und heute sicher nicht das „Wichtigste“) ist unbezahlbar, die Wiederherstellung von Gesundheit folglich auch nicht. Das lateinische Word „Honorar“ – die Bedeutung „Ehrensold“ finde ich treffend – umschreibt nämlich den Versuch etwas eigentlich nicht entlohnbares anerkennend zu würdigen. Das „Honorar“ ist dementsprechend nicht allein „Geld“ sondern vor allem auch „Ansehen“ und „Ruhm“. So steht es im Eid. Bei Hippokrates honorierte der Patient oder sein Besitzer (wenn es sich um einen Sklaven handelte) die ärztlichen Bemühungen, mit Geld und auch „immateriell“, weshalb Hippokrates zumindest dem Namen nach einer der berühmtesten Ärzte aller Zeiten wurde. Der Patient durfte auf die „bestmögliche“ Behandlung vertrauen, wie der Arzt auf die adäquate Honorierung vertrauen durfte. Das war und ist heute noch die wahre Arzt-Patienten-Beziehung. Grundlage war letztlich der Glaube, Heilung sei göttlichen Ursprungs und so waren die Ärzte seinerzeit irgendwie auch Priester, manchmal beides, die „Krankenhäuser“ Tempel und aus diesen Zeiten kommt wohl auch die Definition des ärztlichen „Standes“.
Denkwürdigerweise sind es heute nur mehr die Heilpraktiker, die sich nach meist sehr einfachen Grundregeln (z. B. 1 Sitzung = 50 €) im hippokratischen Zeitsinn „honorieren“ lassen und durch die „Gläubigkeit“ ihrer Patienten (und zuweilen gewissen „metaphysischen“ Zubehörs) tatsächliche, wahrhaft hippokratische Heilerfolge erzielen.
Ein großer Zeitsprung führt uns zum Beginn der heute viel beklagten „Merkantilisierung“ der Medizin. Es war die Politik (wahrscheinlich die preußische), die aus „Honoraren“ irgendwann „Gebühren“ formte, die in „Gebührenordnungen“ den Grundstein schufen für das Novum: „Gesundheitsmarkt“. Die Einführung der Krankenkassen durch Bismarck schuf den „Marktplatz“ für das Einkaufen definierter „Leistungen“ oder „Leistungserbringer“ ohne Bezug zu einem Individuum sondern für eine jeweilige Gruppe. Und dies natürlich zum günstigsten Preis. Dies ist bis heute so geblieben.
Dabei geht es eben prinzipiell nicht mehr um bestmögliche Versorgung des Einzelnen sondern um machbare Versorgung möglichst Vieler. Solange der zur Verfügung stehende finanzielle Rahmen groß genug ist, ist dies ja nicht zwangsweise ein Widerspruch. Hier vertraute der Patient auf die Finanzierung seiner bestmöglichen Versorgung durch seine Kasse, und der Arzt auf die adäquate Honorierung durch eigens geschaffene Körperschaften, den Kassenärztlichen Vereinigungen (KV). Und viele tun das heute noch.
Aber längst befindet sich das bismarcksche System in der Schieflage: aus dem Arzt, dem Asklepiaden der hippokratischen Zeit („Halbgott in Weiß“ oder Priester, Mittler zwischen heilendem Gott und leidendem Mensch) ist ein „Dienst-Leistungserbringer“ geworden, noch besser vielleicht: ein Kaufmann im Gesundheitswesen, aus der „Heilkunst“, einer individuellen, freien Therapie eine Behandlung in BEMA-Schema, Richtlinienkorsett und „wirtschaftlich ausreichender“ Qualität, aus dem göttlichen Geschenk der Genesung oder Wiederherstellung der Gesundheit, jederzeit abrufbare, qualitätszertifizierte Dienstleistung, deren Erfolg bzw. Misserfolg justiziabel und einklagbar sind, aus dem „Honorar“, der Anerkennung ärztlicher Mühen, kalkulatorischer Arztlohn, Fallpauschale oder Budget mit floatendem Punktwert.
Politik und Gesellschaft hat uns seit den 80ern zu “Dienstleistungserbringern” degradiert, wir haben es in 20 Jahren nicht geschafft uns zu echten “Dienstleistern” zu entwickeln. Statt Qualität, Preis, Service steht oft immer noch Richtlinienkonformität, Abrechenbarkeit, Erstattungsfähigkeit im Vordergrund. Wir drohen letztlich zu „Dienstboten“ des Systems zu verkommen.
Natürlich bieten die prognostizierten Veränderungen Chancen, denen, die ihre ökologische Nische beizeiten besetzt haben, die so anpassungsfähig sind, dass sie die Veränderungen lebend überstehen oder die stark (intelligent, flexibel) genug sind, einen neuen Lebensraum für sich zu erobern. Die Reaktion auf Veränderungen, die ein Überleben sichert, ist Evolution im Ursinne. Aber es sind eben nicht zwangsläufig die stärksten, die intelligentesten oder die besten, die das Rennen machen: “It is not the strongest of the species that survives, nor the most intelligent that survives. It is the one that is the most adaptable to change.” stellte schon Charles Darwin fest.
Wollen wir das? Was könnte noch eine Antwort auf das prognostizierte Szenario sein?
Transportieren wir hippokratische Tugenden in unsere Zeit, dann wären drei Punkte sicher hilfreich, um ein tatsächlich echtes Arzt-Patientenverhältnis aufzubauen:
Abschaffung (oder Zuständigkeitsreduktion) der berufsständischen Körperschaften mit Fall vieler, meist bereits von der Realität überholter berufsrechtlicher Beschränkungen und Rückgabe des “Sicherstellungsauftrages” an die gesetzlichen Krankenkassen bzw. an die staatlichen Organe.
Möglichkeit des freien Agierens auf einem freien Markt (z. B. zeitlich unbeschränkte Tätigkeit in mehren Praxen, Bildung von Kapitalgesellschaften (AG), Bildung von Gesellschaften mit einer Rechtsform, die Haftungsbegrenzung ermöglicht(GmbH, Ltd.), um gegenüber MVZentren “Waffengleichheit” in unternehmerischer Hinsicht zu erreichen, einfachere Bildung überörtlicher Berufsausübungsgemeinschaften oder kooperierender Netzwerke spezialisierter Kollegen).
Abschaffung amtlicher oder pseudo-amtlicher “Gebührenordnungen” und damit einer „Erstattungsfähigkeitstherapie“, Einführung einer freien Honorarkalkulation, auch mit Möglichkeit zur Vereinbarung von Pauschal- oder Stundenhonoraren.
Ich würde selber noch einen Punkt hinzusetzen, um die so oft geforderte „Betriebswirtschaftlichkeit“ in der Praxis ankommen zu lassen:
Abschaffung des “Umsatzsteuerprivilegs”, damit Öffnung des Vorsteuerabzugs und Anerkennung der Praxis als Unternehmen.
Radikale Forderungen in unserem Land, die in vielen Ländern der Welt Normalität sind.
Aber in Deutschland geht es eben auch heute nicht ohne…
-gigantische Umverteilungsorganisationen, die von vornherein das eine oder andere Prozent des zur Verfügung stehenden Geldes für die eigene Verwaltung verbrauchen, und dies auf Seiten der Versicherten in Form von 169 gesetzlichen Krankenkassen und einem Gesundheitsfond, von dem keiner wirklich weiß, zu was er gut sein soll, auf Seiten der Ärzte und Zahnärzte durch Kassen(zahn)ärztliche Vereinigungen,
-exorbitante Bürokratie, die so essentielle Dinge wie die Größe eines Praxisschildes oder die rechtlich einwandfreie Form eines Kostenvoranschlages oder selbst einer „freien“ Vereinbarung zwischen Patient und Arzt festschreibt, und sich an die von der Realität überholten Fiktion immer gleich guter, gleich sorgfältiger, gleich kompetenter Kammermitglieder klammert, die sich natürlich alle in herzlicher Kollegialität verbunden sind,
-die unbeschränkte persönliche Haftung, die es zukünftig immer schwerer machen wird, ohne erhebliches Eigenkapital Investitionen zu tätigen oder gar Praxen neu zu gründen, mit der gleichzeitigen Verpflichtung der stetigen persönlichen Leistungserbringung, die verhindern soll, den Leistungsumfang einer Praxis durch Anstellung von Mitarbeitern zu steigern (und dadurch echtes unternehmerisches Handeln konterkarriert).
– “amtliche Gebührenordnung”, die mittlerweile versucht, den eigentlichen Grundgedanken der Einzelleistungsvergütung, nämlich das Kostenrisiko sowohl bezüglich der Häufigkeit wie auch dem Schweregrad einer Erkrankung beim Patienten bzw. der Versicherung anzusiedeln, durch Nichtanpassung an den medizinischen Fortschritt (bisherige GOZ) oder durch „Versozialrechtlichung“ – auch BEMAisierung genannt (GOZ-Referentenentwurf 2009)- zu pervertieren und neue Wege vereinfachter Abrechnung zu verhindern. Und auch die von den zahnärztlichen Körperschaften selbst erarbeitete neue „Honorarordnung“ (HOZ) basiert im Wesentlichen auf dem Prinzip der „Rechtfertigung eines Preises“ durch die zur Kostendeckung erforderlichen Arbeitszeit eines fiktiven „Durchschnittszahnarztes“.
Fides obligat fidem.
Vertrauen bewirkt Vertrauen.
Aber ein undurchsichtiges Gesundheitssystem, das den Patienten viel Geld in Beitragsform abverlangt, aber gleichzeitig keine Kenntnis über das dafür an den Arzt weitergeleitete Honorar gibt, ist nicht vertrauensbildend. Auch intransparente Richtlinien, Verordnungs-, Zuzahlungs- oder auch Zuschussregelungen im System sind nicht vertrauensbildend. Auch das Vertrauen der Zahnärzte in die Anerkennung ihrer Leistungen durch Politik und Kostenträger, ja durch die Standesvertretung selbst, ist nachhaltig erschüttert. Es ist nicht vertrauensbildend, wenn der Zahnarzt bei jeder zweiten Behandlung (sei es Prophylaxe, PAR, Kons, Endo, Prothetik) ein Mehrkostenformular zücken muss, weil eben das Mögliche und Wünschenswerte, das Machbare und Bezahlbare meilenweit auseinander liegen, in der Öffentlichkeit aber das Stereotyp „die Kasse-bezahlt-ja-alles“ unwidersprochen hingenommen oder gar noch abgenickt wird.
Der Beitrag von Hans-Willi Hermann „Germany – the mystery country“ , der den Health Consumer Powerhouse Euro Health Consumer Index 2009 Report zitiert, zeigt deutlich:
Wir haben in Deutschland bestimmte Sozialrechts-Prinzipien, “ethische Verpflichtungen” und den Glauben an den allvermögenden, es immer besser machenden Staat bereits so internalisiert, dass wir z. B. so unzureichende Dinge wie BEMA und GOZ tagtäglich zur Bewertung unserer Arbeit nutzen, sei es völlig unkritisch (“die Leistung A können sie aber neben Leistung B nicht abrechnen, auch wenn sie sie erbracht haben…”), sei es durch den Versuch des “Hinbiegens” über Zuzahlungsklauseln oder wildeste Analogzifferkonstruktionen oder gar der Verwendung bzw. der Kombination von 50 Gebührenziffern zur Abgeltung einer einzigen komplexen Leistung, damit es in der Abrechnung „einfach besser aussieht“. Aber wenn es sein muss, bringen deutsche Ärzte zur Behandlung eines Patienten sogar noch Geld mit: denn in Deutschland hat der einzelne Vertragsarzt nach ständiger Rechtsprechung in der Tat keinen subjektiven Anspruch darauf, dass ihm jede vertragsärztliche Leistung kostendeckend und angemessen vergütet wird.
Darüber kann Europa nur süffisant grinsen. Ja, in der Tat, es ist schwer einen deutschen Zahnarzt vom Arbeiten abzuhalten, selbst wenn sein Budget verbraucht und seine Arbeit nicht mehr bezahlt wird.
„Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, müssen wir zulassen, dass sich alles verändert.“
Dieses altbekannte Zitat des italinischen Schriftstellers Giuseppe Tomasi di Lampedusa (1896-1957), weist uns den Weg.
Die Veränderungen, die uns treffen, können nur durch Veränderungen aufgefangen werden, die wir selbst politisch anregen oder durchsetzen.
Denn die Systemfrage ist längst gestellt und das Bismarcksche Erfolgsmodell“ Sozialstaat“ schon lange auf dem Weg zum Pflegefall „Wohlfahrtsstaat“ unterwegs.