Sensibilität negativ, Vitalität positiv!

von Ronald Wecker

Selbst in die bundeseinheitliche Rechtsverordnung der GOZ hat es der falsche Begriff der „Vitalitätsprüfung“ geschafft.

Eine positive Reaktion auf Kälte- oder elektrischen Reiz wird im Allgemeinen und auch leider im Besonderen (zahnärztlich ausgebildete Kolleginnen und Kollegen) als Beweis dafür angesehen, dass die Pulpa des getesteten Zahnes vital ist.

Im Umkehrschluss werden leider immer noch traumatisch geschädigte Zähne einer endodontischen Behandlung unterzogen, die klinisch symptomlos sind, keine radiologische Pathologie aufweisen, aber nicht auf elektrischen oder Kältereiz reagieren.

In vorliegendem Behandlungsfall erlitt der Zahn 11 vor 4 Jahren eine unkomplizierte Kronenfraktur sowie eine Konkussion. Nachdem der Sensibilitätstest unmittelbar nach Trauma negativ ausfiel, konnte 4 Monate nach Trauma mittels EPT eine positive Reaktion ausgelöst werden. Auch Kältereiz erzeugte eine positive Reaktion. 4 Jahre nach dem Trauma „verschwand“ diese positive Reaktion und der Zahn zeigte eine dezente Diskolorierung ins Gelbliche.

Das angefertigte Einzelbild zeigte eine deutliche Obliteration des koronalen Pulpakavum, einen Einengung des weiteren Kanalverlaufs, sowie ein mittlerweile abgeschlossenes Wurzelwachstum. Alles Vorgänge für die es eine vitale Pulpa benötigt.

Ein schönes Beispiel, dass eine fehlende Sensibilität durchaus mit einer vitalen Pulpa einhergehen kann.

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4 Gedanken zu „Sensibilität negativ, Vitalität positiv!

  1. Hallo Herr Wecker, was die Obliteration des Pulpencavums und des Wurzelkanals angeht bin ich definitiv auf Ihrer Seite. Wenn ich allerdings einen discolorierten Frontzahn nach Trauma mit fehlender Sensibilität bei diesem Röntgenbefund sehe dann würde ich hundertprozentig eine Endo einleiten. Hier liegt doch definitiv eine röntgenologisch apikale Auffälligkeit vor, oder sehe ich das hier falsch.
    VG und ein schönes WE,
    M. Thiele

    • Vitalität, Nekrose, infizierte Nekrose? Das ist die Frage, vor der wir nach Trauma sehr häufig stehen, da uns adäquate Testmethoden nicht zur Verfügung stehen.
      Hilfsweise: Parameter Verfärbung, Sensibilität, apikale Rarefikation.
      Wir nehmen Pulpanekrose an, wenn zwei dieser drei Parameter entsprechende Befunde zeigen. Steht irgendwo auch bei Andreasen.

      Aber 1: gelbliche Verfärbung ist kein Anzeichen für eine Pulpanekrose, sondern für eine Volumenzunahme des Dentins.
      Aber 2: fehlende Sensibilität muss nicht zwingend mit fehlender Vitalität einhergehen. Fehlende Sensibilität muss auch nicht durch den Ausfall der Innervation bedingt sein, wie es nach Trauma häufiger beobachtet wird. Das kann auch der ganz banalen Dickenzunahme des Dentins geschuldet sein.
      Aber 3: Die Interpretation der Röntgenaufnahmen ist heikel. Man vergleiche nur einmal eine orthoradiale und eine leicht exzentrische Aufnahme. Die eine mag einen wunderbaren PA-Spalt zeigen, die andere lässt tiefe, aktive Resorptionen vermuten. Trotzdem tendiere ich in diesem Fall auch eher zum Befund einer dezenten Aufhellung periapikal.

      Die Mineralisation des endodontischen Narbengewebes unterliegt meist einer gewissen Progression, die Räume für Gefäße (=pro Nekrose) und Nerven (=pro Sens-Verlust trotz Vitalität) werden immer mehr eingeengt, es ist durchaus eine Selbststrangulation möglich. In einem Vortrag sagte Andreasen, man müsse von 1% Pulpanekrose jährlich an Zähnen mit obliterierten Wurzelkanälen ausgehen.

      Jetzt geht es ans Eingemachte: Soll heißen: Fast gar keine Evidenz, teils gegen die Lehrmeinung, teils noch unzureichend durchdacht, nicht unbedingt alles für die Goldwaage.

      Nehmen wir Pulpanekrose an.
      Dann besteht immer noch die Frage, ob diese therapiebedürftig ist.
      Wenn man einmal von der offiziellen Lehrmeinung (Doktrin, oft mit dem Anspruch, allgemeine Gültigkeit zu besitzen. http://de.wikipedia.org/wiki/Doktrin) absehen, dann stellt sich die Frage, ob der Patient durch Behandlung oder Nichtbehandlung Schaden nimmt, bzw., bei welcher Option der zu erwartende Schaden größer oder kleiner ist, bei welcher Option ein Schaden früher oder später eintritt, usw. usw.
      Ein ganz wesentlicher Faktor in dieser Entscheidungsuppe, die wir wegen der scharfen Augen von Herrn Thiele nun auszulöffeln haben, ist sicher die Einschätzung, ob Mikroorganismen eine Rolle spielen. Wenn ja, dann halte ich eine endodontische Therapie für sinnvoll. Wenn nein: was kann man durch eine Endo gewinnen? O. k., die Wahrscheinlichkeit einer zukünftigen Infektion ist sicher nicht ganz von der Hand zu weisen, bei unverletzter Krone aber sicher nicht übermäßig groß bezogen auf die nächsten Jahre.
      Man kann aber auch durch eine Endo verlieren:
      Zunächst öffnet man den Weg für die Mikroorganismen. Das kann kurzfristig in einer Kontamination des bis dato sterilen nekrotischen Gewebes enden oder langfristig im coronal leakage. Durch die Trepanation schwächt man die strukturelle Integrität der Zähne, sicher ein Faktor, der bei der Fraktur wurzelkanalbehandelter Zähne eine Rolle spielt: obwohl wir bei der retrograden Stiftinsertion den Wurzelkanal erheblich ausschachten, haben wir noch keine einzige Fraktur so behandelter Zähne beobachtet. Ich führe das auf die unverletzten Kronensubstanzen zurück, eine andere Erklärung habe ich nicht. Dazu kommt dann noch die Notwendigkeit, im Rahmen der Wurzelkanalbehandlung toxische Spülflüssigkeiten einsetzen zu müssen, dann sind mehrfach Röntgenaufnahmen erforderlich, das Risiko von stärkeren Verfärbungen durch eingebrachte Materialien ist auch nicht zu vernachlässigen, die einzubringende Füllung der Trepanationsöffnung unterliegt wie jede Füllung dem Risiko einer Füllungsrandkaries, Kunststoffüllungen an sich sind nicht unumstritten, die Behandlung ist nun auch nicht kostenfrei, usw. usw.
      Bei der Transplantation von wurzelunreifen Zähnen scheint das Nichtdurchführen einer endodontischen Therapie bessere Langzeitergebnisse zu erbringen im Vergleich zu einer umgehenden Wurzelkanalbehandlung (Nolte, 2012(?)). Natürlich kann man die komplexen Wurzelkanalanatomien transplantierter Weisheitszähne nicht mit jenen von Frontzähnen vergleichen, andererseits unterliegen Transplantate auch einem ganz anderen Risiko bezüglich auftretender Infektionen im Endodont.

      In diesem Fall jedenfalls würde ich von einer umgehenden endodontischen Therapie absehen und die weitere Entwicklung „aggressiv beobachten“.

  2. Vielen Dank für dieses Beispiel. Und vielen Dank auch, dass sie immer von der „Vitalität der Pulpa“ sprechen, und nicht nur von „Vitalität“. Gerade das Beispiel Trauma zeigt, dass unser professioneller Sprachgebrauch meist sehr zu wünschen übrig lässt. Durch klug gewählte Bezeichnungen können wesentliche Informationen transportiert, die Aufmerksamkeit des Lesers oder Zuhörers auf bestimmte Aspekte gelenkt und dieser so zum Bedenken dieser geleitet werden.
    Vitalität:
    Der Zahn besteht nicht nur aus dem Endodont, auch das Parodont gehört je nach Definition zumindest partiell zum Zahn. Und am traumatisierten Zahn ist es prognose-und therapierelevant, ob das Parodont vital oder devital ist. Es sollten deshalb wie im obigen Beitrag grundsätzlich die Terme (De-)Vitalität der Pulpa, pulpavital, pulpatot, … genutzt werden. Und selbstverständlich nur dann, wenn sie angebracht sind. Aber das ist im obigen Beitrag ja bereits bestens herausgearbeitet worden.
    Pulpa/Endodont:
    (Zahn-)Pulpa bezeichnet ein hochspezialisiertes Gewebe, das zu einzigartigen Reaktionen auf exogene Einflüsse (Schleiftrauma, Karies) befähigt ist. Es ist mehr als nur die Beschreibung einer Lokalisation.
    Das Gewebe, dem die radiologisch erkennbare „Obliteration“ (übrigens: Obliteration „des Wurzelkanals“, nicht „der Pulpa“) entspricht, ist dagegen ein Ersatzgewebe minderer Qualität, ist eine Narbe. Es hat diese speziellen Eigenschaften einer gesunden Pulpa nicht oder nicht in ausreichendem Maße. Das ist klinisch hoch relevant: Karies, Präparieren bis in das Dentin, kieferorthopädische Therapie führen häufiger zur Nekrose dieser endodontischen Narbe im Vergleich zur Pulpa nicht verletzter Zähnen. Darauf muss therapeutisch Rücksicht genommen werden. Die Bezeichnung dieses Gewebes als „Pulpa“ suggeriert demjenigen, dem die Problematik nicht bewusst ist, er könne „der Pulpa“ die üblichen Behandlungen zumuten. Abweichende Bezeichnungen wie „das Endodont“, „das endodontische Gewebe“,… oder, noch deutlicher: „das endodontische Ersatz- oder Narbengewebe“… signalisieren dagegen bereits auf der sprachlichen Ebene: „Achtung! Hier ist etwas anders, hier ist etwas unüblich!“.
    Ich bin der festen Überzeugung, dass Fehl- und Falschbehandlungen allein durch korrekte Nomenklatur reduziert werden könnten.

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