von Bodald Necker
“…ein Schmerzpatient ist noch da! Schneidekantenaufbau.”, war die Antwort meiner Helferin auf die Frage, ob für heute Schluss sei.
Der 15-Jährige hat gesagt, er sei gestern Abend daheim gestürzt. Auf den Boden. Holzboden.
Intraorale Befunde:
Die Schneidekanten an 11 und 21 fehlen. Komplizierte Fraktur, an beiden Einsern war jeweils die Pulpa an zwei Stellen eröffnet. Die komplette OK-Front hatte Lockerung 0 bis 1, keine Dislokationen, keine sichtbare Blutung oder Hämatome. Keine pathologischen Sondierungstiefen. Saubere Bruchkanten, kaum lose Schmelzlamellen, keine erkennbaren Schmelzrisse. Keine Schmerzen, ausser bei Berührung oder thermisch/chemischen Reiz der Dentinwunde.
Extraoral:
Keinerlei Traumata erkennbar. Weder an Nase, Lippen noch am Kinn irgendwelche Aufschürfungen, Schwellungen oder Hämatome.
Röntgenbefund:
Hartsubstanzverlust im Bereich der Schneidekanten, keine Hinweis auf Bruchspalt oder Dislokation, PA-Spalt evtl. bei 11 leicht vergrössert. Wurzelwachstum abgeschlossen.
Das Trauma muss sehr genau und direkt, ohne Lippenbeteiligung, kurz und fest auf die Zähne gewirkt haben. Der Sturz, wie ihn der Jugendliche beschrieben hatte, kann so eigentlich nicht Ursache der Fraktur gewesen sein.
Das war jetzt jedenfalls egal, momentan stand die Rettung der Zähne im Vordergrund.
Auf die Frage, ob er die abgebrochenen Stücke noch hätte, zog er ein Tupperdöschen aus der Hosentasche. Darin waren zwei Schneidekanten. Komplett. Auch ohne Schmelzrisse. Diese wanderten als erstes in die Zahnrettungsbox zur Rehydrierung.
Vorgehen:
- Anästhesie
- Kofferdam
- Desinfektion der Bruchstellen mit NaOCl
- Zurückschleifen der überstehenden Pulpa mit einem Diamanten
- ausgiebige Spülung mit NaOCl
- Auftragen von MTA weiss
- Fixierung dessen mit Harvard-Zement
- Entfernung von Zementüberschüssen und lockerer Schmelzkristalle mit dem Sandstahler
- Konditionierung der Bruchstellen mit Phosphorsäure
- Bonden, Überschüsse verblasen und aushärten
- Auftragen eine dünnen Schicht Flow-Komposit
- Reponieren der Fragmente
- Entferung von Überschuss und Lichthärten
- Entfernung des restl. Überschusses
- WV am nächsten Tag zur Kontrolle
Was folgt sind regelmässige Sensibilitätskontrollen.
Die Prognose ist als gut einzuschätzen.
Nach der Behandlung hat mich sein Vater gefragt, ob sein Sohn mir erzählt habe, wie es passiert sei, denn dieser habe letzte Nacht bei einem Freund übernachtet und sei morgens mit den Schneidekanten in Tasche nach Hause gekommen.
Da haben wir doch zwei verschiedene Aussagen zum selben Trauma.
Mein Verdacht: aus der Flasche getrunken, und dabei einen Schlag auf die Flasche bekommen. Spätestens bei der nächsten Nachkontrolle, werden wir es herausbekommen, was wirklich war.
Dies war jetzt ein “einfaches Trauma”, also eines, mit dem man öfters im Praxisalltag konfrontiert wird. Trotzdem kann ein Blick auf den “Spickzettel” nicht schaden, und sei es nur um ein sichereres Gefühl zu haben.
Eine ganz dicke Empfehlung an dieser Stelle ist – mal wieder – der Dental Trauma Guide von Jens Ove Andreasen, Kopenhagen.
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