69 Prozent (Teil 2) – Força Barça

von Hans – Willi Herrmann

Eine Woche lang war der Kollege in unserer Praxis zu Besuch.
 Er  kommt aus Barcelona und arbeitet dort,  auf Wurzelkanalbehandlung spezialisiert, in 3 verschiedenen Praxen.

Nur in einer dieser Praxen steht ein Mikroskop, und auch das erst seit wenigen Monaten. In den anderen Praxen muss der Kollege ohne Vergrößerungshilfen auskommen.
Eine Lupenbrille nebst LED – Licht besitzt er  nicht, er  konnte sich diese bislang nicht leisten. Denn er verdient deutlich weniger als ein Kollege in Deutschland. Dafür schleppt er   jeden Tag eine ganze Reihe von  Dingen, die man essentiell für eine Wurzelkanalbehandlung braucht, im Koffer mit sich herum von Praxis zu Praxis. Aus eigener Tasche bezahlt: Drehmomentkontrollmotor und Apex- Lokator zum Beispiel und einen Röntgensensor nebst Laptop.

Sein  Gehalt ist rein umsatzabhängig.
Wenn ein Patient absagt, das kommt im Moment bei schlechtem Wetter immer  mal wieder vor,  erfährt er  das erst vor Ort.  Zu spät, um einen anderen Patienten einzubestellen.

Und dann das Krankenversicherungssystem in Spanien.
 Ich gebe mal auszugsweise wieder, was der Kollege erzählt hat, Dr. Knobel, unser  deutscher Zahnarzt vor Ort, der in Madrid seine Praxis eröffnet hat und hier hoffentlich noch mitliest, wird sicherlich eine ganze Reihe von Details ergänzen oder gegebenenfalls auch richtigstellen können.

Umsonst gibt es Extraktionen.

Für den Rest der Zahnmedizin muss sich der Patient privat krankenversichern.

Die Beiträge sind deutlich niedriger als bei uns, die Leistungserstattung der PKV´s allerdings auch. Gefühlsmäßig würde ich sagen, die bezahlten Leistungen liegt deutlich unter dem Niveau unserer gesetzlichen Krankenversicherung.

Eine freie Arztwahl gibt es nicht, wer z. B. bei der AXA versichert ist, muss einen Zahnarzt, der bei der AXA gelistet ist, aufsuchen. Gute Zahnärzte schliessen keine Verträge mit den PKV´s ab, da diese nur sehr wenig für die jeweilige zahnärztliche  Leistung zahlen.

Zahnärztemangel ?

Gibt es in Barcelona nicht.

Und das liegt nicht nur an der Attraktivität der Metropole Barcelona  für Patienten und Zahnärzte. Denn da sind zum einen Zahnärzte aus Südamerika, die für Dumpingpreise arbeiten,  zum anderen gibt es zwei Universitäten vor Ort, eine staatliche und eine private. Die staatliche bildet alleine rund 240 Zahnärzte jedes Jahr aus.

Das Zahnbewußtsein der Patienten scheint geringer entwickelt zu sein als bei uns in Deutschland.

Der Patient kommt weniger prophylaktisch orientiert und damit seltener von sich aus regelmäßig in die Praxis, als vielmehr zielorientiert, auf konkreten Anlass hin.

Lückenversorgungen und suboptimale Zahnersatzlösungen sind häufiger anzutreffen als bei uns. Anfallende Zahntechnik ist (über den Daumen und auf die Gesamtheit bezogen) kostengünstiger. Zahnärztliche Honorare sind nicht geringer als bei uns, zumindest nicht für die vom Patienten nachgefragten Leistungen.

Es fragen halt nur nicht so viele und so oft wie bei uns.

Unser QM – Massnahmen  hat der Kollege im Übrigen  erstaunt bis ungläubig zur Kenntnis genommen. Es scheint, dass dies  im EU – Land Spanien in dieser Form noch nicht bekannt ist oder sich dort noch nicht hat etablieren können.

Das war für mich im Übrigen die nachhaltigste Erfahrung der Woche. Das  Leuchten in den Augen des Kollegen   zu sehen, angesichts der für uns vielen Selbstverständlichkeiten zahnärztlichen Arbeitens, wie wir es in Deutschland haben.  Zu sehen, dass wir hier bei uns mit unserem Standard an Praxisstruktur und Versorgung immer noch weit vorne dabei sind. Mit dem, was unsere Patienten bekommen und mit den Arbeitsbedingungen, unter denen wir hier arbeiten. 
Ich glaube, besagter  Kollege würde sich freuen,  in Barcelona unter solchen Arbeitsbedingungen arbeiten zu können.

Über unseren Grad an notwendigem Bürokratismus z.B. beim Beantragen von Zahnersatz, bei der Mehrkostenvereinbarung bei Füllungstherapie oder im Hinblick auf die bis zu 12 Seiten Papier, die, je nach Situation,  vor einer Wurzelkanalbehandlung ausgedruckt und mit dem Patienten erörtert werden müssen,  hat der Kollege allerdings nur fassungslos den Kopf geschüttelt.

Fassen wir zusammen: Zahnärzteüberschuss, Patienten- bzw. Arbeitsmangel, keine freie Arztwahl, Knebelverträge der Versicherungen, Schwierigkeiten, sich eine eigene Praxis aufzubauen, Patienten mit geringem dentalen Bewußtsein und wenig Geld für die zahnärztliche Versorgung und das alles bei gleichen Materialkosten und in der Gesamtheit wesentlich geringeren Einnahmen.

Das ist genau das Szenario, auf das wir zukünftig in Deutschland in der Zahnmedizin hinsteuern.

Und darauf muss sich die Zahnärzteschaft einstellen. Jeder einzelne von uns. Die Zeichen sind da und sie zeigen nicht nur aussenpolitisch und währungstechnisch, nein, auch zahnmedizinisch auf die  PIGS – Staaten und damit nach unten.

Auf eine kompakte Weltformel gebracht: Es ist nicht mehr genügend  Geld da.  Und es wird zukünftig nicht mehr, sondern weitaus weniger Geld für/in der Zahnmedizin geben.

Das sind die Fakten.

Und jetzt ? Folgt zwangsläufig die Analyse der Ist – Situation:
Was wir Zahnärzte mit den Airbus – Piloten gemeinsam haben und was uns von ihnen trennt.
Was zukünftig aus uns  wird und warum wir es sind, die ohne Fallschirm aus dem Flugzeug geworfen werden,  während der Lufthansa – Kapitän die Maschine sicher landet und dafür den Applaus der Passagiere erhält.

Darüber mehr im dritten Teil der Beitragsreihe 69 Prozent, am nächsten Dienstag.

3 Gedanken zu „69 Prozent (Teil 2) – Força Barça

  1. Natürlich lese ich noch mit, jede Nacht Punkt 00:00 bin ich dabei!!!
    Heute kann ich das Geschriebene zum spanischen System nur bestätigen, soweit alles korrekt.

    Im März bin ich dann auch genau ein Jahr vor Ort und werde meine Erfahrungen als “Rückblick – das erste Jahr in Madrid eil 2]” hier gerne wiedergeben.

    Spanien ist anders und funktioniert anders. Nicht alles ist schlecht was auf den ersten Blick schlecht erscheint und bestimmt ist auch nicht alles gut, was erst einmal attraktiv klingt.
    Ob Deutschland sich diesem System nähert ist denkbar unwahrscheinlich, ob es deswegen in Deutschland einfacher wird, wohl auch nicht.

    Ich bin bereits auf das 2. Jahr als Auswanderer gespannt!

    o be continued…]

  2. Lieber HaWi,

    laß den Kopf nicht hängen!
    Deutschland ist nicht Spanien – zum Glück hatten wir nur kurze Zeit Kolonien und keinen Bezug mehr zu diesen. Auch wenn in Namibia deutsch gesprochen wird an den skurrilsten Ortn – da kommt keiner nach D, um eine Dumpingpraxis aufzumachen. Gut so.
    Und Deutschland ist komplett anders aufgestellt als Spanien.
    Aber: es wird enger, was die AUTOMATISCHE Erstattung von Zahnarztleistungen bei den Versicherungen angeht.
    Dafür wird es leichter, GEGEN den Qualitätsminderungsauftrag der Kranken Kassen zu argumentieren.
    Der Patient muß halt überzeugt werden und wird bald schon wissen: es kostet Geld – und zwar IMMER.
    Ob Kaufkraft und Kauflust dann für uns da sein werden? – ja, sage ich. Es wird eine Zweiklassengesellschaft werden. Die Frage ist nur, welchen Teil man als ZA bedienen will.
    Du und ich bedienen seit Jahren den Qualitäts bewußten Teil.
    Und das wird auch so bleiben.
    Wir können gar nicht anders:-)
    Also viel Wasser bereitstellen für viel Überzeugungsgespräche – und dann klappt es auch in Zukunft.
    Isso.
    Herzliche Grüße Stefan

    • Lieber Anonymus Stefan,

      nein, das stimmt, aus Namibia kommen sicher nur wenige, um in Deutschland eine Dumpingpraxis aufzumachen, warum auch. Was wollen sie denn preislich noch unterbieten? Den AOK-Punktwert?
      Hierzulande reisen die Patienten ins Ausland, um sich dort billigst zahnmässig versorgen zu lassen.

      Trotzdem: Deine Worte in Gottes Gehörgang!

      Allein: Die qualitätsbewußte Klientel, von der man mit der Erbringung hochwertiger Leistungen zu adäquaten Honoraren tatsächlich leben kann, findet sich allenfalls noch in den urbanen Ballungsräumen, in denen dafür der – natürlich stets kollegiale – Konkurrenzkampf – nach dem Hörensagen – heftig um sich greifen soll.

      Auf dem Land bei uns gibt es zuwenig Zahnärzte, daher keinen Konkurrenzkampf; dafür natürlich eine viel spärlicher gesähte Qualitäts-Honorierungs-Bereitschaft: das zuzahlungsfreie “Rausreissen” wird immer öfter dem zahlungspflichtigen “Erhalten” vorgezogen. Das in Mengen bereitstehende Wasser fruchtet da leider gar nichts. ;-)))

      HaWi`s Szenario erscheint hier zumindest teilweise bereits existent.

      Grüße vom Lande, Thomas

Kommentar verfassen