Frontzahntrauma – das klinische Vorgehen.

von Jörg Schröder

Mit schöner Regelmässigkeit stellen sich in meiner Praxis sehr junge Patienten vor, die nach einem vor Wochen oder gar Monaten erlittenem Frontzahntrauma Beschwerden entwickeln. Die Erstversorgung ist also loco bereits erfolgt und leider führt genau diese Erstversorgung dazu, dass Behandlungsoptionen verloren gehen, die selbst bei komplexen Verletzungen eine Vitalerhaltung der pulpalen Gewebe ermöglichen könnten.

Diese junge Patientin, 9 Jahre alt, erlitt nach einem Sturz vor 3 Wochen offensichtlich eine Kronenfraktur an den Zähnen 21 und 11.

Nach der Initialversorgung der Dentinwunde mit Komposit – die frakturieren Kronenanteile waren am Unfallort in einem Dentosafe gelagert worden und konnten aufgrund der unfallbedingten Blutung aus den verletzten parodontalen Geweben nicht wiederbefestigt werden – wurde zunächst ein abwartendes Vorgehen empfohlen. Anamnestisch konnte nicht in Erfahrung gebracht werden, ob es sich um eine komplizierte (mit Pulpaeröffnung) oder eine unkomplizierte Kronenfraktur handelte.

Nachdem an Zahn 11 eine deutliche Berührungsempfindlichkeit auftrat, suchten die Eltern Rat an einer Universitätsklinik. Es war Ihnen empfohlen worden, den Versuch einer Revaskularisierung unternehmen zu lassen. Da in der universitären Einrichtung ein etwaiger Behandlungstermin erst 8 Wochen später realisierbar gewesen wäre, wendeten sie sich an eine von der Klinik empfohlene Praxis.

Dort wurde, da der Sensibiltätstest mit Kälte negativ ausfiel, Zahn 11 ohne Anästhesie im Bruchbereich trepaniert und …… . Überraschung: es blutete und die Patientin war alles andere als begeistert. Daraufhin wurde Calxyl eingelegt und die Trepanationsöffnung mit einem Fissurenversiegelungsmaterial verschlossen. Es erfolgte die Überweisung an mich.

Nicht unerwähnt soll bleiben, dass die empfohlene Praxis gar nicht in der Lage war, eine regenerative/ reparative Pulpabehandlung durchzuführen. Eine Aufklärung über das geplante Vorgehen erfolgt zudem auch nicht, es wurde einfach trepaniert!

Am Tag der Erstuntersuchung bei mir zeigten alle Oberkieferfrontzähne eine reproduzierbar positive Antwort auf den elektrischen Reiz. Eine ausbleibende Reaktion auf den Kältetest wird leider immer noch als ein sicheres Zeichen einer Pulpanekrose angesehen. Dabei kann es nach einem Frontzahntrauma bis zu 9 Monaten dauern, bis sich eine Sensibilität wieder einstellt. Dasselbe gilt für transiente apikale Aufhellungen. Insbesondere bei Dislokationsverletzungen. Diese sind eben kein sicheres Zeichen einer Pulpanekrose, was die Ableitung der “richtigen” Therapie jetzt nicht unbedingt erleichtert.

Empfehlenswert und deutlich reproduzierbarer ist der elektrische Sensibiltätstest, wobei nicht unerwähnt bleiben soll, dass dieser gerade bei jungen Patienten nicht zuverlässig ausfallen kann, da diese sehr schnell herausfinden, was “gut” (ja, merke ich) oder “schlecht”  (nein, ich merke nichts) für sie ist.

Es empfiehlt sich immer, sicher nicht betroffene Zähne mit zu überprüfen, um die Befunde korrekt einschätzen zu können.

Da sich im Einzelbild eine die klinische Krone diagonal verlaufender Frakturlinie zeigte, wurde zur Klärung einer eventuell bestehenden Kronen-/Wurzelfraktur ein kleinvolumiges DVT erstellt.

Und, wie so oft, brachte dieses Licht ins Dunkel.

Durch den Sturz kam es offensichtlich zu einer partiellen Aussprengung eines palatinalen Kronenanteils, die bis in die Wurzel hineinreichte. Die Frakturlinie selbst hatte keinen Kontakt zum Pulpakammerhohlraum. Durch die Einblutung in den palatinal gelegenen Frakturspalt kam es zu einer Dunkelverfärbung der klinischen Krone. Diese wurde durch ein deutliches Leakage des Dentinwundenverschlusses aus Komposit verstärkt.

Die Probetrepanation, die in Wirklichkeit leider nicht auf Probe, sondern eine erfolgreiche war, führte zu einer weiteren Einblutung in den verbliebenen Kronenanteil.

Den Eltern der kleinen Patientin habe ich daher folgendes Vorgehen empfohlen:

  • Entfernung der Erstversorgung an Zahn 11 und Pulpotomie im Gesunden, falls sich die Pulpa am Behandlungstag elektrisch sensibel und klinisch vaskularisiert darstellt.
  • Entfernung des palatinalen Kronenfragmentes nach chirurgischer Darstellung und adhäsive Abdeckung der freiliegenden Dentinareale mittels Flow-Komposit.
  • Reattachment des beim Unfall frakturierten Kronenanteils mittels Komposit.

Eine vollständige Herstellung des palatinalen Volumens der Krone mittels Komposit erschien aufgrund der subcrestalen Lage der Fraktur nicht erstrebenswert. Ein kieferorthopädische Extrusion kann zu Verbesserung der parodontalen Verhältnisse zu einem späteren Zeitpunkt durchgeführt werden.

Die Pulpotomie erfolgte unter absoluter Trockenlegung. Die Kofferdamklammer fixierte dabei das palatinale Fragment durch nach vestibulär gerichteten Druck der palatinalen Klammeranteile. Die Kompositfüllung liess sich mittels Scaler absprengen. Darunter zeigte sich das Ausmass der Undichtigkeit.

Die Pulpotomie wurde bis in eine Tiefe hin durchgeführt, die eine Kontamination der Pulpa durch auf der Bruchstelle freiliegende Dentintubuli als unwahrscheinlich erachtet werden konnte. Ebenso sollten unerwünschte Auswirkungen der Begleitmassnahmen (Ansätzen, Bonden) der adhäsiven Abdeckung auf die Pulpa vermieden werden. Dazu wurde am DVT die Strecke bis zur palatinalen Bruchkante ausgemessen und die Pulpa bis in den Wurzelbereich reduziert.

Nach chirurgischer Darstellung der Frakturstelle, hier ist eine optimale Hämostase wichtig, konnte das mitgebrachte Kronenfragment adhäsiv befestigt werden.

Anschliessend wurden die fehlenden Kronen-/Wurzelanteile mittels Flowkomposit bestmöglich rekonstruiert. Ein geringer Unterschuss am Übergang zur Bruchstelle wurde dabei bewusst in Kauf genommen, um die Irritationen der parodontalen Gewebe durch Kompositmaterialien so klein wie möglich zu halten.

Zum Abschluss erfolgte die Reposition der mobilisierten Gewebe und die Fixierung mittels zweier Einzelknopfnähte 7/0.

Das Recall wird von mir schon mit Spannung erwartet:

Wird es die Pulpa in Zahn 11 schaffen? Wie entwickelt sich die Situation an Zahn 21, der im DVT klar Zeichen einer zurückliegenden lateralen Dislokation aufweist?

20 Gedanken zu „Frontzahntrauma – das klinische Vorgehen.

    • Hi Christoph. Es gab im Journal Dental Traumatology einmal eine veröffentlich zum Thema „was weist auf Nekrose hin“. Kann auch das IEJ gewesen sein. Da ging es um die Frage, wann ist zu trepanieren. Verfärbung kann transient sein, sensverlust eben auch. Klinisch habe ich das auch bereits beobachten können. Solange keine Schwellung oder apikale Aufhellung oder eine infektionsbedingte externe resorption besteht, trepaniere ich nicht. Allerdings muss man engmaschig kontrollieren. Lgj

  1. Hi,
    danke für den super Fall und die prima Erläuterung.

    Zwei Fragen/Anmerkungen:

    1) Vlt. könntet ihr “Trauma” am 12.09. mal aus klinisch-praktischer Sicht mir ansprechen? Bei vielen Fortbildungen verlieren sich die meist universitären Referenten leider lediglich in Einteilung/Nomenklatur und das Praktische fällt mal wieder hinten runter.

    2) Welches DVT benutzt ihr in der Praxis?

    LG
    Oli

    • Hallo Oli, das ist sicher ein Thema, das einen ganzen Tag und mehr locker füllen kann. Vielleicht daher dies eher als Tutorial? Da kann interaktiv agiert werden. Ich kann gerne einmal etwas zusammen stellen. Allerdings habe ich zur Zeit einige Vorträge und Kurse anstehen, die vorbereitet werden möchten. ;)) Deshalb vielleicht nach dem 12.9.?

      Wir haben das VeraView X800 Size M von Morita. Und sind sehr zufrieden.

      LGJ

      • Sehr gern als interaktives Tutorial nach dem 12.09., danke für das Angebot! Da melde ich mich doch hiermit gleich als Teilnehmer an.

          • Nein. War mir vollkommen neu. Mir fallen In diesem Zusammenhang Nico Rosberg und Philipp Lahm ein. Die wussten , wann ein guter Zeitpunkt zum Aufhören ist. Dr. Ruddle hat sich sehr verdient um die Endodontie gemacht, aber mal ehrlich: was hat Endofortbildung mit Altherrentennis zu tun?

          • Ich geb dir mit allem Recht. Wenn Cliff was neues startet, lohnt der Blick ab und an sicher dennoch. In Sachen Endo Didaktik ist sein Konzept für mich noch immer ungeschlagen, insbesondere für Endo Anfänger wie mich. Und es ist doch schön zu sehen, dass das Wurzelspitze-Konzept prominente Nachahmer findet.

          • Nicht dass Du etwas missverstehst: ich sehe mich nicht über Herrn Ruddle. Er war mein Initialzünder die Endo so zu betreiben, wie ich es heute tue. Ich habe auf der Jahrestagung der Neuen Gruppe die Herren Tonetti und Cortellini erlebt. Die vermitteln ihr enormes Wissen auf eine deutlich umaufgeregtere und ihrem Alter entsprechende Weise, ohne langweilig zu sein. OK, sie sind auch 10 Jahre jünger.

      • Hallo Oli, das ist sicher ein Thema, das einen ganzen Tag und mehr locker füllen kann.

        Und damit der große Traum von Christoph Kaaden für “Die Drei reden über…”

        Wäre dann 2023, denn die Jahre davor sind schon thematisch vergeben.

  2. Sehr spannend – vielen dank.

    Also ist das was fast wie eine invagination aussieht das palatinate Fragment,

    Mit welchem Instrument hast du die Pulpa in der tiefe abgetragen. Ich bin gerade am überlegen welche Diamenten sich dafür eignen. Meine lange Kugel hätte in der tiefe nicht mehr ausgereicht.

    Mit welchem Material hast du hier die Pulpa abgedeckt? Total Fill, CaOH2 oder klassisch Pro Root MTA.

    Grüße aus dem Zug nach Dresden – dort ist heute ein Pulpotomie Workshop.

    Georg

    • Genau. Die frakturlinie täuscht über die wahre Gestalt des Fragmentes hinweg. Ich habe dafür steril verpackte zylindrische Diamanten von TriHawk. Die Pulpa habe ich mit MedCem abgedeckt.

      Viel Spaß in Dresden

  3. Toll dokumentiert und gelöst.
    Kurze Frage zur Anästhesie.
    Wie betäuben Sie das palatinale Gewebe um bei dieser Patientin schmerzfrei die Aufklappung vorzunehmen?

    Beste Grüße,

    Markus

    • Dankeschön. Das ist ein gute Frage;)
      Ich gehe so vor: oberflächenanäthesie. Dann labialisiert ca. ein sechstel der Ampulle sehr langsam abgeben. Dann 3-4 Minuten später den Rest der Ampulle labial. Anschließend gehe ich mit der Kanüle neben die vestibulären Papillen schräg nach palatinal im Sinne einer intraligamentären Anästhesie. So hangele ich mich nach palatinal. Wenn dort die Anästhesie angekommen ist verfahre ich dann in beim Erwachsenen mit palatinal Anästhesie neben dem Fora,en oder direkt in die palatinale Gingiva. Lgjs

  4. Egal was dabei rauskommt – aber eine Sache hat Cliff Ruddle sein ganzes Berufsleben begleitet und so sieht es auch nun wieder aus – er dreht kein kleines Rad. Sicherlich ist er ein begnadeter! Showman, aber sei es drum, gerade das macht ja auch neben seinen grossartigen Fällen seine Faszination als Vortragender aus. Ich bin gespannt…

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