Mehrfach-Trauma

von Ronald Wecker

Drei Tage nach einem Fahrradsturz stellte sich dieser 23-jährige Patient, bislang mit restaurationsfreien Zähnen gesegnet, in unserer Praxis vor.

Multitrauma D.002 In der MKG-Abteilung einer bekannten deutschen Universitätsklinik erfolgte die Erstversorgung der erheblichen Verletzungen des Gesichtsschädels, der umgebenden Weichgewebe sowie der Zahnhartsubstanz.

Im kurz nach dem Unfall angefertigten DVT wurde laut den Eltern des Patienten (beide Mediziner) diagnostiziert: Fraktur des Jochbeins links, Fraktur des Siebbeins links, Alveolarfortsatzfraktur in Regio 24-21 mit Dislokation nach palatinal, Fraktur der lateralen Sinusbegrenzung links und eine nicht dislozierte Nasenbeinfraktur. Hinzu kamen zwei  perforierende Riss-/Platzwunden in Ober- und Unterlippe.

Der Zahn 11 war avulsiert, der Zahn 12 intrudiert, die Zähne 23, 22, 21,11 und 12 wiesen unkomplizierte Kronenfrakturen auf. Die Gingiva distal des 11 wies eine diagonale Risswunde auf. Zahn 11 wurde nach 4 Stunden Trockenlagerung replantiert. Das am Unfalltag angefertigte MRT wurde nicht ausgewertet. Dies ist insofern von Bedeutung, als der Patient einige Tage nach der Entlassung aus der Klinik über Schwindelgefühle berichtete und kurzfristig das Bewusstsein verlor.

Die kontaktierte Klinik schlug eine neurologische Untersuchung vor. Dabei wurde auch die Auswertung des am Unfalltages angefertigten MRT besprochen: Neben einer Dislokation eines cervikalen Wirbelkörpers wurde eine kleine Ruptur der Arteria vertebralis festgestellt, die als Ursache für den Schwindel und den Bewusstseinsverlust verantwortlich gemacht wurde. Wohlgemerkt einige Tage nach dem Erstellen des MRT!

Dass die Versorgung der Verletzungen an Zähnen und Halteapparat angesichts der Schwere der Verletzungen in den Hintergrund tritt, ist vielleicht noch zu verstehen.

Dass jedoch der intrudierte Zahn 12, nicht im frakturierten Alveolarfortsatzbereich gelegen, nicht chirurgisch reponiert wurde, dass die parodontalhygiensch ungeeigneste Schienungsvariante gewählt wurde und dass dem Patienten und den Eltern ein nicht korrekter Schienungszeitraum (2-3 Wochen) genannt wurde, wirft ein ungutes Licht auf den Kenntnisstand des Behandelnden, rundet aber das Gesamtbild ab.

Es wurden definitiv Chancen vergeben, mögliche Folgeschäden von Zähnen, Halteapparat und Alveolarfortsatz ohne großen Aufwand abzuwenden.

Ob einer der Behandelnden sein eigenes Kind in der beschriebenen Weise behandelt wissen möchte, darf stark bezweifelt werden.

Die klinischen Befunde waren: Die Zähne 15,14,13 und 25 reagierten reproduzierbar positiv auf elektrischen Reiz. Die Zähne 24-12 reagierten negativ auf elektrischen Reiz. Die Zähne 15-13 und 24 und 25 zeigten eine normale Beweglichkeit. Die Zähne 23-11 wiesen eine Beweglichkeit Grad 3 auf. Zahn 12 war nicht beweglich und zeigte als einziger einen ankylotischen Klopfschall.

Nach Entfernung der vorhandenen Schienung und nach absoluter Trockenlegung wurde als Erstmaßnahme die aus ästhetischer Sicht vorerst provisorische dentinadhäsive Versorgung der Dentinwunden durchgeführt. Anschließend wurde ein TTS-Splint von 24-15 adhäsiv befestigt.

Zum Abschluss der verzögerten Erstversorgung erfolgte die initiale endodontische Behandlung des avulisierten Zahnes 11 nebst medikamentöser Einlage.

Multitrauma D.006 In der Folge werden die Zähne 24-12 engmaschig klinisch und gegebenfalls radiologisch kontrolliert. Eine endodontische Behandlung des Zahnes 12 scheint unumgänglich, da die Pulpanekrose bei einer Intrusion diesen Ausmaßes so gut wie sicher ist.

Begleitend wird sowohl der behandelnde Kieferorthopäde, als auch ein in freier Praxis niedergelassener MKG konsultiert werden, um die für eine Wiederherstellung normaler funktioneller und ästhetischer Verhältnisse notwendigen Maßnahmen zu erörtern.

Ein fader Beigeschmack bleibt jedoch angesichts der Geschehnisse zurück. Ein Einzelfall? Ich befürchte nicht.

9 Gedanken zu „Mehrfach-Trauma

  1. Man ist ja mit Kritik schnell dabei, aber angesichts der Menge der Versäumnisse muß man sich doch fragen, ob man, wenn es das eigene Kind wäre, als Eltern und Mediziner die behandelnde Klinik bzw. den leitenden Arzt nicht mit den Unterlassungssünden konfrontieren würde und müsste. Vielleicht war der Behandler ja ein unerfahrener Kollege, aber hier war wohl auch etwas zu viel Nonchalance im Spiel. Man mag sich die möglichen und tatsächlichen Folgeschäden kaum ausmalen…

    LG Bernard

  2. Auf die Schnelle:
    1.: 12 hat „unkomplizierte Kronenfraktur“. Bedeutet:
    A: „nur Schmelz betroffen“ (=Dentinkanälchen nicht eröffnet=kein unmittelbares Infektionsrisiko) oder
    B: „Pulpa nicht eröffnet“ (=S-D-Fraktur=Dentinkanälchen eröffnet=hohes Infektionsrisiko)?
    und: „Eine endodontische Behandlung des Zahnes 12 scheint unumgänglich“.
    Ja, das ist richtig!!!!
    Daher: Worauf warten bzgl. Endo? Das Risiko infektionsbedingter Resorptionen ist bei intrudierten Zähnen höher als bei avulsierten. Im Fall A geht das auch ratzfatz: Es entsteht durch die Nekrose der Pulpa ein Unterdruck im WK, die Mikroorganismen werden dadurch in den WK hineingesogen….
    2.: Das chirurgische Einstellen von 12 ist nicht an die Notfallsituation gebunden und kann auch jetzt noch erfolgen…

  3. Guten Abend
    Wie gesagt man ist mit Kritik ja schnell bei der Hand. Um überhaut Kritik zu üben, wäre interessant wer DVT und wer MRT angeordnet hat. Des weiteren wie gross das Behandlungszeitfenster für diesen Notfall war? Wieviele Notfälle, welcher Kategorie sind zeitgleich angeflutet? Welche Massnahmen wurden nach der neurologischen Konsultation noch durchgeführt bezüglich HWS, bzw. SHT?
    „Dass die Versorgung der Verletzungen an Zähnen und Halteapparat angesichts der Schwere der Verletzungen in den Hintergrund tritt, ist vielleicht noch zu verstehen.“ Vielleicht ? Ernstgemeinte Aussage ? Aufgrund dem obigen genannten Verletzungsmuster „Im kurz nach ………… – und Unterlippe“ ist eine absolute Trockenlegung zur Versorgung der Dentinwunden bzw. Anlegen des TTS nur schwer machbar. Hätte einer der Zahnärzte dies den durchführen können, nach erfolgter chirurgischer Reposition?
    Sicher sind Dinge (Splintkonfiguration) fragwürdig gelaufen, vielleicht sind auch Fehler (Reposition, MRT) begangen worden. Jeder Frage sich am Ende seines Arbeitstages „hab ich alles richtig entschieden, alles richtig gelaufen ?“. Ich kann retrospectiv sagen, dass ich jeden Tag was verbessern oder anders machen würde. Es gilt auch „Manchmal gelingt das Unmögliche, und manchmal scheitert man am Möglichen.“
    Ich wünsche dem Patienten gute Besserung und allen Behandlern ein „glückliches“ Händchen.

    Kollegiale Grüsse
    JJ

  4. Hallo zusammen,

    das bestätigt mich nur wieder, dass man als Patient am besten immer selbst mitdenkt und alles hinterfragt, was mit einem medizinisch geschieht, nicht nur in der Zahnmedizin, selbstverständlich.

    Davon abgesehen wundere ich mich ein wenig, dass hier permanent die Rede von dem „Kind“ und der großen Rolle der Eltern ist. Ist der Patient nicht 23?

    Herzliche Grüße und ein schönes Wochenende

    Haya

  5. Pingback: Mehrfach-Trauma -Recall nach 7,5 Jahren | WURZELSPITZE

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