Anatomie eines Notdienstes (5)

von Donald Becker

Normalerweise ist der 2. Tag des Notdienstes weniger anstrengend.

Diesmal nicht.

Wenigstens war der Heilige Abend ruhig und auch in der heiligen Nacht rief niemand an. Das war für mich das Wichtigste.
Dafür kommt es jetzt um so heftiger.

Schon nach einer Stunde haben wir die Höchstmarke  des gestrigen Vormittags überschritten.  Als wir kurz vor 15.00 Uhr die Praxis verlassen, um etwas essen zu können, haben wir bereits 20 Patienten behandelt. Und für 17.00 Uhr sind schon weitere 6 Patienten angemeldet.

Der Patient mit dem Oberkiefereckzahn (das war der Patient, für den es in den Kammerrichtlinien nebst Gerichtsurteil keine Therapiekonzept ausser der Extraktion gibt)  kommt zur Kontrolle nach Wurzelkanalbehandlung vorbei. Seine Schmerzen sind weg, die Schwellung ist rückläufig, der Druck im Kiefer und in der Wange hat nachgelassen.

Eine Patientin mit Schmerzen in der Unterkieferfront und leichter vestibulärer Schwellung in Regio 41- 43 stellt sich vor. Sie trägt eine große den gesamten Frontzahnbereich umspannende Brückenkonstruktion. Klopftest, Rö- Bilder und Kältetest sind nicht eindeutig.  Am wahrscheinlichsten ist der Zahn 42 der Schmerzauslöser.

Wir trepanieren, ein extrem schwieriges Unterfangen bei den grazilen Zähnen, die die Patientin hat und der Keramikkonstruktion, die den Zahn umgibt. Trotz Dentalmikroskop ist dieser Zahn eine enorme Herausforderung. Ohne Mikroskop bei den extrem schwierig aufzufindendem Kanal keine Chance.

Was also tun im Notdienst ?
Draussen sitzen gegenwärtig 9 weitere Patienten. Längst haben wir zusätzliche Sitzgelegenheiten herbeigeschafft, der Wartebereich ist übervoll, die Patienten und ihre Begleitpersonen  sitzen in einer Reihe im Flur bis zur Anmeldung.

Es kommt zu leichtem Tumult, weil  ein paar der  Patienten sich nicht einigen können, wer nun als Nächster an der Reihe sei, nachdem wir eine Patientin, die zum Streifenwechsel die Praxis aufgesucht hatte, nach kurzer Wartezeit schon ins Behandlungszimmer   gesetzt haben.
Ich gehe nach draussen, erkläre die Situation. Meine Stimmung sinkt.

Es ist gerade mal Halb Eins am zweiten Tag unseres Notdienstes. Noch weitere 20 Stunden liegen vor uns.

Zurück im Zimmer.  Noch immer nicht der geringsten Hinweis, wo der Wurzelkanal des Zahnes 42 zu finden wäre.

Ich beschliesse, den Zahn erst weiterzubehandeln, wenn ich die weiteren Patienten versorgt habe. Die Patientin ist einverstanden.
Sie hat bislang schon 2 Stunden gewartet und wird weitere 90 Minuten warten müssen, bis wir uns ihr wieder widmen können.


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