von Hans – Willi Herrmann
“4 Patienten behandelt er heute”, sagt der junge russische Praxisinhaber.
4 Patienten ? Hab ich mich verhört ? Nein, es sind tatsächlich nur 4.
Aber er kann trotzdem offensichtlich davon leben, denn die Praxis gibt es schon ein wenig länger.
Und 2 Stockwerke höher befindet sich das praxiseigene zahntechnische Labor mit 6 Angestellten.
Implantologie und hochwertiger Zahnersatz, das scheinen die Pfeiler seiner Tätigkeit zu sein.
In Deutschland ist es nicht ungewöhnlich, dass am Tag 40 Patienten die Praxis aufsuchen.
Ich kenne sogar eine Praxis, die meist 60 Patienten am Tag durchschleusst.
Und mindestens doppelt so viele Schmerzpatienten jeden Tag behandelt als der russische Kollege überhaupt Patienten hat in diesem Zeitraum.
Der Moskauer Kollege schüttelt den Kopf, als ich ihm von den deutschen Verhältnissen erzähle.
Ruhig geht es zu in dieser Praxis.
Was für eine angenehme Athmosphäre.
Keine Hetze, kein Gedränge.
Ruhe.
Das macht mich nachdenklich.
Es geht also auch anders als im deutschen Gesundheitshamsterrad.
Was braucht es dafür ?
Vermutlich nur die Erkenntnis bei allen Beteiligten, dass eine adäquate Leistung eine entsprechende Honorierung mit sich ziehen muss.
Wir in Deutschland haben im Laufe der Jahrzehnte die Zeit zum Massstab aller Honorierungen gemacht. Die Qualität wird nicht in die Überlegungen einbezogen, sie wird stillschweigend vorausgesetzt, selbst dann noch, wenn offensichtlich ist, dass im vorgegebenen Zeitrahmen die Leistung nicht lege artis erbracht werden kann.
Wenn es in Russland geht, warum nicht bei uns ?
Weil zunächst einmal Abschied genommen werden müsste von der Vorstellung, mit dem zur Verfügung stehenden Gesundheitsbudget alle benötigten medizinischen Massnahmen in Topqualität und in toto bezahlen zu können.
Warum das nicht geht ? Die Gründe dafür sind vielfältig und es ist müssig, darüber zu diskutieren.
Ebenso muss klar sein, dass die immer wieder von Ärztevertretern geforderte pauschale Honorarerhöhung nichts, aber auch gar nichts zur Verbesserung der Gesundheitssituation beitragen wird.
Messbare, nachweisbare Qualität, die aufwandgerecht honoriert werden kann, nicht länger als sinnlose Übertherapie oder Abzockerei abzutun, sondern als erstrebenswerte, vom Patienten frei zu wählende Alternative zu anderen Therapieoptionen gelten zu lassen, wäre die Grundvoraussetzung dafür, dass sich auch bei uns ein neues Behandlungsgefüge einstellen kann.
Kommen wird es so oder so.
Das Beispiel Moskau zeigt, das diese Entwicklung nur noch eine Frage der Zeit ist.
Noch hätten wir jedoch die Möglichkeit, einem breiten Kreis von Bürgern eine fein abgestuftes Bündel solcher Versorgungen zukommen zu lassen.
Wird diese nicht genutzt (und je länger man an gesetzgebender Stelle damit wartet, umso wahrscheinlicher wird es) steht am Ende unserer Entwicklung eine Minimalbasisversorgung für Viele und moderne Zahnmedizin für sehr Wenige.