Karies behandeln oder nicht ? Die ganze Geschichte…

von Hans – Willi Herrmann

Vor kurzem hatten wir an dieser Stelle eine Abstimmung: 3 Vestibuläre Läsionen bei einem jugendlichen Patienten und die Frage:  Behandeln oder noch abwarten ?

76 % stimmten für die Behandlung aller 3 Läsionen,
21 % für die Behandlung zweier Läsionen,
2 % für die Behandlung einer Läsion und
1 % dafür, das generell noch weiter abgewartet werden soll.

Ich habe diese Abstimmung gestartet (vielen Dank für die Beteiligung), weil für mich der unbedingte Behandlungsbedarf der 3 Läsionen gegeben war, aber ein Kollege, der um Zweitmeinung gebeten wurde,  lediglich für die eventuelle Behandlung eines Zahnes plädiert hatte. Ich wollte die Entscheidung hierüber auf eine breitere Basis stellen. Aber hier die ganze Geschichte:

Der Jugendliche, keine 17 Jahre alt, kam im Frühherbst zur 01 in die Praxis.

Maximal 3 Jahre war er bei uns und nur sehr unregelmäßig zur Kontrolle erschienen. Jeweils schlechte MH, immer mit  weichen Belägen in den schwieriger zugänglichen Zahnbereichen.
MH – Hinweise zeigten keine Änderung seines Verhaltens. Die weißen Entkalkungsgirlanden  an den Zahnhälsen gaben den Weg vor.
Und jetzt, nach längerer Abwesenheit  diese kariösen Läsionen.

Für mich war jede von Ihnen behandlungsbedürftig.

Die Mutter, bei der Untersuchung dabei,  sichtlich aufgeregt.

„Wieso soviele Löcher ? Es war doch bisher nie was ???“
Skepsis in ihrem Gesicht. Aber sogleich auch der ausgeprägte Wille zum sofortigen Handeln.
Jetzt muss etwas passieren. Unbedingt.

So schnell wie möglich. Die Passivität der letzten Jahre weicht energischem Aktionismus.

Ob wir nicht heute die Behandlung gleich durchführen können ?
Wir können nicht.

Dann aber noch diese Woche !?!?!?!

Ich schüttele verneinend den Kopf.

Mutter und Sohn  gehen nach draussen  zur Terminplanung. Weil wir auf viele Wochen hin ausgebucht sind, versuchen wir, so schnell wie möglich einen Termin freizueisen. Schwer genug, aber als zusätzliches Problem kommt hinzu, dass der Terminkalender des Jugendlichen nur wenig Flexibilität zulässt. Die Schule, dann die Hobbys, Sport, viel Spielraum bleibt nicht. Nach mehr als 5 Minuten und zähem Ringen sind zwei Termine gefunden. Nach 5 Wochen der erste, nach 9 Wochen der zweite. 2 Zähne sollen behandelt werden und je nach Zustand dieser Läsionen der 3. Zahn weiter beobachtet oder darf dann ebenfalls behandelt werden. Damit ist die Mutter des Jungen einverstanden.

Wenige Tage später.

Anruf der Mutter. Sie hätte den Jungen bei einem anderen Kollegen vorgestellt. Sie sagt es nicht, aber es ist naheliegend, dass sie nach einem schnelleren Termin gesucht hat oder der Diagnose nicht traute.

„Der Kollege  sei der Meinung, dass nur ein Zahn behandelt werden müsse, die beiden anderen Läsionen können ruhig noch beobachtet werden.“

Eine schwierige Situation. Ich kann die Mutter ein wenig verstehen. Normalerweise ist man geneigt, dem zu glauben, der für das Abwarten plädiert. Denn – wer auf ein „Geschäft“ verzichtet, erhält dadurch einen Vertrauensbonus. Aber im vorliegenden Fall eine krasse Fehlentscheidung. Von der ich nichts weiss, denn vom Telefonat erfahre ich erst Tage später.

Aber ich will nicht vorgreifen.

Die Mutter möchte nach der Konsultation durch den Kollegen den ersten der beiden Termine absagen. Der zweite könne aber beibehalten werden.

Macht das Sinn ?
Eigentlich nicht. Man sollte erwarten, dass der erste Termin beibehalten und der zweite Termin, sofern nicht mehr notwendig, gestrichen wird.

Ich vermute, dass der Junge beim Kollegen deutlich schneller Termine bekommen hat.
Und rechne nicht damit, dass er zum Behandlungstermin erscheinen wird.

Wider Erwarten taucht er 10 Wochen später auf.
Mit den 3 Löchern.
Keine Behandlung bisher.

Ich bin irritiert und frage nach. Der Kollege habe keine Behandlungsnotwendigkeit gesehen und gesagt, er, der Junge,  solle in 6 Monaten wiederkommen, heißt es jetzt.

Ich repariere den ersten Defekt, der sich von der vestibulären Seite nach approximal ausdehnt.
Die Karies geht unterminierend weit in den Zahn rein. Jetzt kann eigentlich kein Zweifel mehr bestehen, dass ein Behandlungsbedarf vorliegt.  Aber da war ja die Aussage der Mutter. Maximal ein Zahn sei behandlungsbedürftig.
Aber heute ist die Mutter nicht mitgekommen. Ich würde am liebsten Fotos machen nach Exkavation, aber die Zugänglichkeit ist erschwert und wir haben bereits kräftig überzogen, der Zahn war zeitaufwändiger als geplant.

Ich rufe die Mutter an und frage nach der Auskunft des Kollegen: Sie antwortet, sie sei beim Untersuchungstermin nicht dabei gewesen und ihr Sohn habe möglicherweise etwas missverstanden.

Ich erläutere ihr noch einmal, dass eine dringende Behandlungsbedürftigkeit besteht und frage, warum sie den ersten Termin abgesagt habe.
Sie antwortet, sie habe keinen Termin abgesagt.

????

Ich schaue in der Karte: Keine Notiz diesbezüglich.
Mist. Ich halte Rücksprache mit der Mitarbeiterin, die das Gespräch geführt hat und verbinde die beiden. „Ach ja, richtig“, sagt die Mutter, „jetzt erinnert sie sich wieder“.

Wir brauchen einen neuen Termin.
Schnellstmöglich. Eigentlich keine Chance. Aber da wäre Donnerstag, nächste Woche, nachmittag. Der Tag ist freigehalten. Für die  DG Endo – Jahrestagung. Ich beschliesse erst zur Mitgliederversammlung um 17.00 Uhr anzureisen und gebe dem Jungen den Termin, weil ich darin die einzige Chance sehe, zeitnah die Defekte behandeln zu können.

Und dann ist es ist Donnerstag, 15.00 Uhr.

Wer ist nicht da ?
Unser junger Patient.

Er kommt 40 Minuten zu spät. „Der Zug ist sonst immer pünktlich“, ist die knappe Entschuldigung.

Mein Zeitplan ist dahin. Normalerweise müsste ich den Termin verschieben, aber ich weiss, dass in absehbarer Zeit kein passender Termin frei sein wird.

Also behandle ich.
Den Zahn 17.

Das ist der Zahn, der von 21 % der Kollegen als „Noch abwarten“ einstuft worden war. Wobei ich sicher bin, dass viele der Kollegen, wenn sie diesen Zahn „live“ gesehen hätten, ebenso vehement wie ich für die Behandlung gestimmt hätten.
Denn wie sich schnell zeigt, ist der  Zahn 17 ist nicht nur vestibulär und distal, sonder auch okklusal in der Fissur massiv entkalkt. Und zwar derart, dass die letztendliche Füllung mehr als drei Viertel des Zahnes abdecken wird.

Die eingeschränkte Mundöffnung und die Kippung des Zahnes erlauben nicht das reguläre Einführen des Winkelstückes.
Die Behandlung muss unter Dentalmikroskop – Kontrolle und mit den Röder – Mini – Spiegeln erfolgen, weil dies die einzige Möglichkeit ist, über indirekte Sicht beim Bohren die entsprechenden Stellen überhaupt einsehen zu können.
Extrem schwierige Trockenlegung.

Kofferdam  ?  Vergessen Sie es. Nicht mal dran zu denken. Kein Platz, keine Retention bei subgingival reichender Kavitätenlage.
Das Anlegen der Matritze allein dauert rund 10 Minuten. Jetzt darf keiner wackeln. Wir arbeiten 6 händig. Amalgam wäre sicherlich mit einem geringeren Stressfaktor zu verarbeiten, aber (muss ich es erwähnen ?),  es soll nicht verwendet werden.

Nach 70 Minuten ist die Behandlung des einen Zahnes 17 zu Ende.
Und wir sind es auch.

Die Mutter hat nach 2 Dritteln der Behandlung zum Telefonieren das Behandlungszimmer verlassen und taucht bis Behandlungsende nicht mehr auf. Ihr einziger Kommentar, kurz bevor sie das Behandlungszimmer verlässt.  „Jetzt weiss ich,was erhöhter Zeitaufwand in der Rechnung bedeutet“.

Um 17:35 Uhr treffe ich Wiesbaden ein, rund 1,5 Stunden später als geplant.

5 Gedanken zu „Karies behandeln oder nicht ? Die ganze Geschichte…

  1. Lustige Geschichte. Aber ich bin sicher, dass wir alle ähnliche Erfahrungen haben. Es ist so, wenn man arbeitet mit den Menschen.

  2. Hallo, ich verstehe, dass man sich einen solchen Frust von der Seele schreiben muß. Wahrscheinlich war die Mutter Lehrerin und der Vater Anwalt (oder umgekehrt).

  3. Zum Glück nicht noch angeraunzt worden mit der provokativen Frage, warum das denn so lange gedauert hat, beim letzten Zahnarzt wäre das ja schließlich auch schneller gegangen!

    Wieso sind uns eigentlich häufig die Zähne Fremder mehr wert als den Besitzern selbst???
    Liebe zum Beruf?
    Eintretender Rinderwahnsinn???

    Ich selbst habe dafür noch keine Antwort gefunden.

  4. Hallo.

    Meine Hochachtung vor Ihrer Geduld. Ich hatte auch schon solche Fälle. Aber nach dem letzten Fall, der mir nicht gedankt wurde, möchte ich mich nicht mehr in dieser Weise einsetzen.
    Es gibt soviele Mütter, die mit Konsequenz dabei sind, ihre Sprösslinge zu führen. Aber es gibt eben auch die, die nie Schuld sind, bei denen die Kinder nie verantwortlich sind und die uns immer falsch verstehen wollen. Sie akzeptieren die unangenehmen Wahrheiten nicht. Denn es kann nicht sein, was nicht sein darf.

    Ja. Wir sollen, wir müssen helfen. Aber, dann erwarte ich entsprechenden Einsatz von den Eltern. Dann müssen das Hobby, der Sport etc. eben ausfallen.
    Hier zeigt sich dann doch, ob man mit diesen Menschen arbeiten kann.
    Wer dazu nicht bereit ist…..! Ich jedenfalls bin nicht mehr bereit, mir meinen Terminplan durcheinander bringen zu lassen, von Patienten, die nicht den gleichen Einsatz bringen.

    Lieben Gruß

    Stefan Klinge

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