Geschichten aus dem Endozän 20210607

Wie war das nun mit der Patientin, die so vehement einforderte, die Anästhesie für die Behandlung wegzulassen ?

Die interessante Vorgeschichte findet sich hier.

Ich hatte 3 Gedanken zur Abstimmung gegeben. Zunächst also das Meinungsbild der WURZELSPITZE – Leser.

Und hier meine Gedanken in der Sache

  1. Die (mir) sympathische Antwort: Patientin ohne Behandlung nach Hause schicken. Wie verrückt ist das denn? Ich bin jetzt 31 Jahre Zahnarzt und der Patient mit keinerlei Fachkenntnissen kommt und meint, er wisse es besser, wie die Behandlung durchzuführen sei. Man stelle sich vor, selbiger Patient beim Besuch eines Sterne-Restaurants und er gebe als Erstes bei der Bestellung an, der Koch möge bitte die vielen Gewürze, das Fleur de Sel und den seit 4 Tagen auf dem Herd vor sich hin köchelnden Knochenfond weglassen, schliesslich habe die Oma früher mit MAGGI gekocht und das habe doch auch immer lecker geschmeckt. Würde kein Gast tun in der Sterne- Gastronomie. Und wenn doch? Wie würde der Küchenchef antworten ?” Klar, machen wir. Kein Thema. Der Kunde ist König und irgendwo steht so ne grosse Flasche MAGGI doch ohnehin bei uns im Regal rum?” Sicher nicht. Die richtige Antwort? My way or the highway ! Dieser sicherlich platte Spruch vom Zahnärzte-Stammtisch, der hier aber passt wie die berühmte sprichwörtliche Faust aufs Auge. Oder, wie einer meiner Studienkollegen vor Jahrzehnten schon sagte. Einmal im Monat trenne ich mich von einem unangenehmen Patienten. Das gönne ich mir für mein Seelenheil !

    ABER
    was würde passieren im vorliegenden Fall?

    Die Patientin würde stinksauer ihren einstündigen Fahrweg nach Hause antreten. Der Hauszahnarzt würde die Behandlung ohne Anästhesie durchführen und egal wie grottig das Endergebnis auch ausfallen würde, für die Patientin wäre der Nachweis erbracht, dass SELBSTVERSTÄNDLICH auch ohne Anästhesie, ohne Kofferdam, ohne OP – Mikroskop, ohne DVT und ohne Laser eine Endo durchgeführt werden kann, mit anderen Worten unsere Behandlung lediglich eine sehr teure Schaumschlägerei ohne praktischen Nutzen darstellt. Eine Negativwerbung vom Feinsten. Eine Katastrophe!
  2. Die pragmatische Antwort: Zur Tagesordnung übergehen, Spritze geben, loslegen und gut ist. Würde ich mir wünschen. Es tun zu können. Da denke ich immer an meinen Steuerberater, ein Klassenkamerad aus Abi- Zeiten. Der erzählte mir, wie er mit solchen Kunden umgeht, von denen er natürlich auch nicht verschont bleibt. Kunden, die NATÜRLICH besser wissen, welche todsicheren steuerlichen Winkelzüge es gibt, sein sauer verdientes Geld legal am Staat vorbei zu schaffen. Er hört sich das immer an, teilt seine Bedenken in der Sache mit, aber wenn der Kunde partout nicht hören will, dann sagt es nur ebenso kurz wie emotionslos. “Gut. Wenn Sie das wollen, dann versuchen wir das! Mal sehen, was das Finanzamt dazu sagt!”.
    Und der Kunde ist glücklich und er hat seine Ruhe.
    Ich bewundere das, aber ich kann das nicht.
  3. Die anstrengende Antwort: Erklären, warum man eine Spritze gibt. Ist das, was ich letztendlich gemacht habe. Auch wenn ich eigentlich nicht daran glaube, das meine Worte wirklich zur Patienten vordringen. Was habe ich geantwortet ?

    Ihr Hauszahnarzt hat ohne Spritze gearbeitet ?
    Hat er denn auch eine Kofferdamisolierung angelegt? Nein? Ich frage, weil diese Isolierung mit Klammern am Zahnfleischrand befestigt wird. Und das kann, ich zeig es Ihnen mal an ihrem Finger, auch manchmal ganz schön drücken und schmerzhaft sei. Da hilft die Betäubung, ihnen Schmerzen zu ersparen. Immerhin, die Behandlung dauert ja vielleicht eine Stunde, und da wäre dieser Schmerz auf Dauer schon sehr sehr unangenehm.
    Hat ihr Hauszahnarzt eine elektrische Längenmessung durchgeführt?
    Die Geräte arbeiten mit Strom, der angelegt wird und es gibt Patienten, die merken dies sogar trotz Betäubung. Ohne Betäubung ist so ein Stromschlag noch viel unangenehmer.

    Und hat ihr Hauszahnarzt mit dem Laser gearbeitet?
    Auch das kann in bestimmten Siutationen sogar mit Betäubung zu spüren sein, ohne Betäubung ist es dann noch viel unangenehmer.

    Sie sehen also.
    Das sind schon mal 3 gute Gründe, mit Betäubung zu arbeiten.
    Was meinen Sie ?

6 Gedanken zu „Geschichten aus dem Endozän 20210607

  1. Hallo Ha-Wi,
    Ich oute mich jetzt als einer der drei, die die Patientin ohne Behandlung nach Hause geschickt hätten. Ich gebe zu, dass das am Alter und an meinen Nerven liegen muss, denn vor 20 Jahren hätte ich viel mehr und länger begründet. Das hat sich in den letzten 5 Jahren geändert. Irgendwann hatte ich keine Lust mehr, meine einzelnen Behandlungsschritte zu begründen. Den Kollegen, der sich jeden Monat von einem unangenehmen Patienten trennt, verstehe ich gut. Ich denke da an den von uns geschätzten Kollegen Prof. Gutowski, der solchen fordernden Patient/-innen eine Packung “Steinzement” in die Hand drückt und sie wegschickt, mit den Worten; “Gnädige Frau, mein ganzes Wissen reicht nicht aus, um sie zu behandeln!”
    Nix desto trotz hat mich der “Stromschlag”, die Kofferdamklammer am Finger und der Laser (kennt man doch sonst nur aus Science Fiction Filmen, und da ist es eine Waffe!) extrem beeindruckt!
    Wie hat denn die Patientin darauf reagiert?
    LG, Harald.

    • Mir geht es so wie Dir, Harald! Ich denke der Vergleich mit dem Sterne-Koch, dem nicht im Traum einfallen würde, seine Zutatenliste zu begründen, trifft es sehr gut. Aber im vorliegenden Falle (wir hatten das Fragment schon entfernt, den Kanal fertig aufbereitet) wäre es dem Hauszahnarzt ein Leichtes gewesen, die Behandlung zu Ende zu führen und somit a) von unserer Arbeit zu profitieren und b) die Patientin in ihren Ansichten noch zu bestärken. Das wollte ich vermeiden. Was hat es gebracht? Vermutlich nichts, ausser die Sache komplikationslos zu Ende zu bringen.

      • Ich hätte kurz erklärt, warum eine Anästhesie notwendig ist. Bei Unverständnis wäre bei mir die nächste Eskalationsstufe gezündet…
        ich merke, dass ich zunehmend dünnhäutiger werde. Aber erläutert hätte ich es in diesem Fall als erstes schon…

  2. Hallo Ha-Wi, ich bin nun ein anderes Semester und betrachte den Patient vom Beginn an auch als Klient. Was hätte es dich gekostet darüber aufzuklären und bei Verneinung ohne LA zu beginnen. Die Anästhesie könnte im Bedarfsfall jederzeit nachgeholt werden. 1. wäre dein Nervenkostüm geschont geblieben und 2. bei eventuellen Schmerzereignis die Patientin wohl nachhaltig überzeugt gewesen. Ich nenne das Win-Win-Situation. Es geht ja nicht um einen prinzipiellen Therapieansatz Zahnerhalt vs. Ex.
    Beste Grüße
    AR

    • Interessante Diskussion, gefällt mir !
      Zunächst. Anderes Semester?!? Naja, auch vor 30 Jahren war ich schon der Meinung und bin es immer noch, das der Servicegedanke elementarer Bestandteil der Praxisführung ist. Punkt!
      Allerdings. Der Ton macht die Musik. Die Patientin hat ja nicht gefragt, sondern in Königinnenart entschieden und dies Ihren Lakaien kundgetan. Es darf schon die Frage erlaubt sein, ob besagter Servicegedanke bis zur Selbstverleugnung gehen soll. Das muss aber jeder für sich selbst entscheiden. Zur Frage der Anästhesie per se – Wir fragen (ausser bei Endo) den Patienten IMMER, ob er eine Anästhesie möchte oder nicht. Gerade das Kommunikationskrokodil bietet ja eine elegante Möglichkeit, zunächst ohne Anästhesie zu beginnen. Warum also nicht bei Endo AUCH ohne Anästhesie beginnen ? Weil es bei Endo ohne Spritze unangenehm sein kann UND, falls (nach)anästhesiert werden muss, Kofferdam + Kofferdamabdichtung entfernt und neu angelegt werden muss, ein zusätzlicher Arbeits- und Zeitaufwand zu unseren Lasten. Ich hätte im Übrigen kein Problem damit, wenn dem Patient, wie in jedem Handwerk üblich, der notwendige Mehraufwand in Rechnung gestellt werden könnte. GENAU da hinkt aber der Vergleich, die Medizin betreffend.

  3. Ich stimme dir zu, den O-Ton können wir als geneigte Leser leider nicht vernehmen . Und sicherlich ist das auch wahrscheinlich der springende Punkt. Zur Kostenerstattung sehe ich kein Problem. Dafür gibt es Steigerungsfaktoren. Diese hätte man nach intraoperativen Verlauf anpassen und sehr transparent begründen können. Oder vermeidest du per se eine Korrektur des KV nach oben, wenn’s doch schwieriger wird als geplant?
    In Bezug auf das jüngere Semester – ich erlebe es jeden Tag wie Patienten die fehlende Kommunikation mit dem Patienten auf Augenhöhe und das Einfühlungsvermögen vermissen. Eventuell hatte die Patientin ja mehr Angst vor der Spritze als der WKB. Interessant wäre die Ursache ihrer Emotion gewesen. Vielleicht ist sie es gewohnt die Oberhand zu haben oder musste sich in ihrem Leben immerzu durchsetzen… Fakt ist – wir sind nicht das Problem, also brauch es eine praktikable Lösung ;)
    Grüße AR

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