Geschichten aus dem Endozän 2021 05 20

“DIE BEHANDLUNG MACHEN SIE OHNE SPRITZE!!!!”

Ist der erste Satz, den mir die geschätzt Mitte 70 jährige Patientin unvermittelt an den Kopf wirft. Und mich damit auf dem falschen Fuss erwischt, denn ich bin den ganzen Morgen schon etwas nachdenklich-melancholisch. Der Grund? Die DGET-Fortbildung gestern abend im Netz. Zu Beginn wurde gefragt via Abstimmung, wie lange man schon zahnärztlich tätig ist. 19 Prozent der Anwesenden kreuzten an – über 25 Jahre.

Bei mir sind es sogar 31.
Vor mehr als 3 Jahrzehnten habe ich die Uni verlassen.
Mein Berufsleben ist fast schon zu Ende offensichtlich.
Wo ist sie hin die Zeit ?
Dabei waren die ersten geschätzt 15 Jahre doch recht zäh in der Erinnerung. Dauerten ewig.
Aber dann – BOOM – und die 30 steht auf dem Papier.

31 Jahre.
Eine lange Zeit.
Und Etliches hat sich verändert.
Nicht immer unbedingt zum Guten.

Auch darüber denke ich in der letzten Zeit immer mehr nach. Ebenfalls ein klassisches Indiz des Älterwerdens. Dieses- Früher war – (nicht) alles (aber doch Einiges) besser. Das manche 14 Jährigen in die Praxis kommen und ohne Begrüßung als Erstes fragen – Wie lange dauerts heute (sie meinen die Wartezeit bis Behandlungsbeginn) ? Geschenkt. Für deren Erziehung sind die Eltern verantwortlich. Aber jetzt auch die Alten ???? Der Respekt vor dem Arzt. Geschichte. Halbgott in Weiss? Jeder Nageldesigner, jeder Tättowierer wird heute besser behandelt als ein Mediziner.

“DIE BEHANDLUNG MACHEN SIE OHNE SPRITZE!!!!”
Energisch klingt die Dame. Keinen Widerspruch und keine Alternative geltend lassen, soviel scheint klar.

“Kein Problem”, antworte ich.
Und entferne den Patientenumhang, schiebe das Schwebetray der Behandungseinheit nach hinten, das Arztelement zur Seite.

“Dann haben sie es schon geschafft für heute.”

Die Patientin stutzt.
Realisiert, das irgendwas nicht stimmt.
“Mein Hauszahnarzt hat die Behandlung auch ohne Spritze durchgeführt, ich habe NICHTS gemerkt.”

Und ergänzt.
“Selbst als er mit ganzer Kraft an dem abgebrochenen Instrument gewackelt hat, um es rauszuholen, habe ich nichts bemerkt.”

Jetzt erinnere ich mich. Es dämmert mir. Vor ein paar Wochen. Letzter Tag vor dem einwöchigen Urlaub. Der Anruf des (seltenen) Überweisers. Ich möchte ihn dringend sofort persönlich zurückrufen. Das auf Anfrage vorab übermittelte Röntgenbild des Zahnes zeigt ein Wurzelkanalinstrument über die gesamte Länge im Kanal steckend.

Was tun?
Termine in der nächsten Zeit keine frei.
Wir beschliessen, weil es erfahrungsgemäß nach dem Urlaub mit den Terminen noch knapper wird, die Patientin heute noch einzubestellen.

Als der Überweiser das hört, ich erreiche zunächst die Anmeldung, ist das persönliche Gespräch nicht mehr notwendig.
Schon klar.

Die Patientin erscheint nach Ende der regulären Behandlungszeit. Lange kann die Fragmententfernung ja nicht dauern, wir zitieren (intern) den zum geflügelten Wort gewordenen Satz einer ehemaligen Azubi aus den Praxisanfängen: Den (Zahn) machen wir mit der Pinzette raus.

Genau wie damals (besagte Weisheitszähne benötigten 2 Stunden) dauerte es in diesem Falle doch deutlich länger als gedacht. Das Fragment war gut zu sehen, saß fester als vermutet, was die Situation kompliziert, jedoch nicht unmöglich erscheinen lässt. Allerdings – den oberen Bereich freizulegen, um es packen zu können, war doch auf Grund der vorhandenen Krone und ihrer Lingualneigung schwierig. Egal. Nach 45 Minuten konnten wir die Patientin nach Fragmententfernung und initialen endodontischer Maßnahmen sowie definitivem Verschluss der Zugangskavität nach Hause entlassen.

Und jetzt sitzt sie wieder hier.
Und merkt, dass die Situation sich nicht so entwickelt, wie sie sich es vorgestellt hat. Und die Möglichkeit besteht, die 60 Minuten Fahrweg nach Hause unverrichteter Dinge wieder antreten zu müssen.

“Wenn sie natürlich der Meinung sind, das eine Spritze unbedingt notwendig ist, dann machen Sie das…” Der Ton nicht mehr energisch, sondern pikiert, leicht patzig.

Liebe WURZELSPITZE Leser,

Wie würden sie entscheiden, was hätten sie getan an meiner Stelle ?

3 Möglichkeiten, die mir spontan durch den Kopf gingen, habe ich hier zur Abstimmung aufgeführt.
Ich würde mich freuen, wenn hier fleissig abgestimmt werden würde.

3 Gedanken zu „Geschichten aus dem Endozän 2021 05 20

  1. Oh, diese Patientin kenne ich auch sehr gut:-)
    Ist meiner Meinung nach das selbe Spiel, welches ich mehrmals täglich mit meinen beiden Kindern spielen muss/darf. Es geht um eigentlich nebensächliche Fragen (blaue oder rote Schuhe, Wurst oder Käse, Zopf oder Haarspange, Anästhesie oder nicht) mit dem Ziel herauszufinden, wer der Chef im Ring ist.
    Generell habe ich den Eindruck, dass so manche scheußliche Eigenschaften bei dem ein oder anderen Patienten unter den “Corona-Bedingungen” noch deutlich verschärft worden sind.
    LG

  2. Gestern war ein Pfarrer als Patient in unserer Praxis. 30 Jahre im Beruf, aber so wie jetzt war es noch nie, sagt er. Sein Telefon schweigt nur zwischen 1 Uhr und 6 Uhr morgens, ansonsten permanenter Gesprächsbedarf. Und COVID habe die Menschheit hin zum Schlechten hin gewandelt, die negativen Eigenschaften der Leute zum Vorschein gebracht. Er rechnet nicht, dass sich diese Dinge in absehbarer Zeit wieder zurückbilden, sondern das “Schlechte” sei für lange nun in der Welt.

  3. Pingback: Geschichten aus dem Endozän 20210607 | WURZELSPITZE

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