Samstag Abend. 22 Uhr 10.
Das Telefon klingelt und das verheißt nichts Gutes.
Der Schwiegervater, fast 89, Colon CA, Lebermetastasen, nach Tumorresektion ohne nachfolgende weitere Chemotherapie seit ein paar Monaten zu Hause und immer schwächer werdend, ist im Bad beim Zähneputzen gestürzt.
Wir treffen 25 Minuten später ein. Der Rettungswagen ist da, der Schwiegervater wird in den Stuhl gehieft, seine rechte Seite, Arm, Bein, Mundwinkel hängt.
Ab ins Krankenhaus.
Notaufnahme.
Warten.
Es wird geröntgt, immerhin nix gebrochen.
Es empfängt uns eine Ärztin, dem Kittelschild nach Anästhesistin. Mit unverkennbarem osteuropäischen Akzent, aber immerhin einigermaßen verständlich.
Irgendwann dreht sie eine an der Wand weit oben hängende Kamera „Modell Überwachungskamera“ an unten.
Wir werden jetzt den Tele – Neurologen zuschalten aus Heidelberg. Wir fragen nach. „Nein, einen Neurologen vor Ort gibt es nicht. Der kommt am Wochenende nur tagsüber morgens irgendwann vorbei. Dafür gibt es jetzt die Tele-Diagnose. Aber im anderen Krankenhaus der Stadt ist das auch nicht anders, da gibt es auch keinen Neurologen vor Ort.”
Aha.
Ich betrachte die Technik, die gewisse Schwierigkeiten hat, überhaupt in Gang zu kommen. Nach High Tech sieht das nicht unbedingt aus, die Kamera betreffend, 4K vermutlich nicht, aber lassen wir uns überraschen.
Der Patient ist 5 Meter weg, ich hoffe auf die Zoom- Funktion.
Irgendwann klingelt es kurz, dann erscheint eine weibliche Gestalt am Bildschirm. Leicht unscharf, das Bild in etwa so, wie es die Physiognomie des Kameragehäuses schon vermuten ließ.
Dafür ertönt die Stimme aus dem Lautsprecher, scharf, zackig und laut verzerrt wie aus einem Trichterhornlautsprecher auf einem DEUTSCHEN Bahnhofsgleis aus der Dampflok-Ära. Der Schwiegervater, natürlich von der Situation vollkommen überfordert, zuckt sichtbar zusammen. „Warum sind sie denn so grantig zu mir“, sagt er. Vor ihm, auf seinen Brustkorb gelegt, liegt ein schwarzes Prisma, etwas mehr als Streichholzschachtel groß, das Mikrophon, wie sich jetzt herausstellt.
Der Schwiegervater ist schwach, seine Sprache leise, das auf dem Sternum ruhende Mikrofon nicht ausreichend, die Ärztin versteht ihn nicht, er soll sich aufrichten, was ihm auch mit Hilfe kaum möglich ist. Wir soufflieren.
Dennoch ist der Informationsverlust offensichtlich erheblich. Zudem gibt es auch noch mehrmals übertragungsbedingte Aussetzer der Audiokommunikation.
Alles in allem lässt sich am lebenden Objekt durchgeführt konstatieren, dass die kürzlich medial lautstark geäußerte Euphorie der Landes-Gesundheitsministerin, die Telemedizin betreffend, den Alltagstest nicht standhält. Eine gescheite Diagnostik ist SO nicht möglich. Punkt. Wie traurig ist DAS. DAS soll der Fortschritt und die Lösung unserer Probleme sein ???
Die Situation des Schwiegervaters hat sich zwischenzeitlich etwas gebessert. Er kann jetzt leidlich den rechten Arm und das rechte Bein wieder bewegen, die Neurologin entscheidet daher, dass es sich nicht um einen Schlaganfall handelt, im CT sei nichts zu erkennen. Sie vermutet einen epileptischen Anfall, es sollen krampflösende Mittel gegeben werden. Weiterhin soll ein Ultraschall vom Hals und Kopf gemacht werden.
Ihre Annahme steht im Gegensatz zur Aussage des Radiologen, der, wie wir im Nachhinein erfahren, auch nicht vor Ort ist, sondern via Internet kontaktiert wird, unsere fachfremde Einschätzung teilt und ebenfalls für einen Schlaganfall plädiert. Das erfahren wir aber alles erst später, ebenso wie die Tatsache, dass die Ärztin aus Osteuropa erst 3 Monate im Haus ist.
Das Ultraschall-Gerät wird hereingerollt.
Ein guter alter Bekannter, das bewährte „Apollo 11“ – Gerät, mit dem schon meine Mutter vor 3 Jahren im gleichen Krankenhaus als Notfall untersucht wurde. Ich taufte es damals Apollo 11, weil es vermutlich schon als Erstausrüstung bei der ersten Mondlandung an Bord der Eagle-Mondfähre war, zumindest erinnert mich die Bildqualität an die Fernsehübertragung des Ereignisses, wie ich es als 6 Jähriger live erlebt hatte.
Kleines Detail am Rande. Das laminierte Schild auf der Rückseite der „Bildröhre“ weist darauf hin, daß der Monitor nur mit reinem Wasser abgerieben werden darf. Kontaminationsprophylaxe sieht IMHO anders aus. Auch die Reinigungsfähigkeit des Geräte- Interfaces mit seinen zahlreichen Knöpfen und Schaltern erscheint mir suboptimal, insbesondere im Hinblick auf den hektischen Alltag einer Notaufnahme. Dafür fällt mein Blick auf den MRSA -Prüfbogen, der offen herum liegt. Länger als 3 Tage Patient im Krankenhaus in den letzten 12 Monaten, ich hake im Stillen für den Schweigervater als gesetzt ab, dann sollte ein Screening, unter anderem mit rektaler Probeentnahme erfolgen. Sollte ich die Ärztin darauf hinweisen ? Ich schaue in das verängstigte Gesicht des Schwiegervaters und versuche, in mich zu gehen, ein besserer Mensch zu sein und kompetente Medizinprofis nicht darauf hinzuweisen, wie sie ihren Job zu machen haben. Ich schweige. Der Schwiegervater wird es mir danken, wenn ich ihm später zu der vorgesehenen Maßnahme befrage, da bin ich zuversichtlich.
Die Ärztin erscheint, ihre SEHR kindliche Erscheinung und die asiatische Klangfarbe ihrer Stimme bildet einen deutlichen Kontrapunkt zum Auftritt ihrer Vorgängerin. Ich fühle mich zu beidem gleichermassen wenig hingezogen, kann demnach ganz neutral urteilen und verbuche dementsprechend lediglich, das die Dame mit dem Ultraschall deutlich schlechter zu verstehen ist als die Anästhesistin. Nummer 1 die Audiokommunikation betreffend, ist immer noch der Weimarer Republik – Trichterhornlautsprecher. Sage noch mal einer etwas gegen die Telemedizin.
Im Rettungswagen wurde eine Infusion gelegt. Vergeblich.
Jetzt ein weiterer Versuch.
Für den Schwiegervater eine Qual. Ich bin froh, das es jetzt schnell und unkompliziert gelingt.
Plaster drauf zur Fixation der Kanüle, alles gut.
Merkwürdig, allerdings, die Infusion wird nicht laufen gelassen.
Susanne und ich sind ratlos.
Sollte man nicht schnellstmöglich mit der Infusion starten, damit diese nicht wieder ein Weiteres mal zugeht?
Die fernöstliche Sonographistin betritt das Behandlungszimmer. Ich frage nach.
Sie schaut kurz.
„Die Infusion läuft nicht. Man müsse noch einmal legen. Später.“ Ein dritter Versuch also, eine Infusion zu legen. Der “Infusionszugangsleger” hatte offensichtlich erkannt, dass es nicht möglich war, einen Zugang zu legen und daher die Infusion nicht laufen gelassen. Also mal so getan als ob. Buche ich nicht als vertrauensbildende Maßnahme, behalte meine Einschätzung aber für mich.
Jetzt wird geschallt.
Hals und Kopf sind unauffällig. Jetzt noch das Herz. Aber die Bildqualität des Gerätes ist in den letzten 3 Jahren nicht von Zauberhand besser geworden. Das Herz ist nur als schlagender Schatten zu erahnen. Eigentlich ist wirklich nichts zu erkennen. Absolut nichts. Dagegen war der lunare Fussabdruck von Neil Armstrong knackscharf. Oder die Vergrößerungen der Schwarz Weiss- Fotografien aus dem Film Klassiker Blow Up, die einen Mörder überführen sollen. Schaut den Film, dann wisst ihr, WIE SCHLECHT dieses Gerät hier ist.

Die Ärztin bricht die Untersuchung ab. Man müsse am Montag mit einem besseren Gerät das Ganze noch einmal versuchen. SO sieht Notaufnahme aus. Weiterhin wird beschlossen, auch das Infundieren zu verschieben, Frau geht hier vor Ort davon aus, das hier doch kein epileptischer Krampfanfall vorliegt.
Liegt also vielleicht doch ein Apoplex vor, der nach Ansicht der Tele-Neurologin nicht existiert ? Wir können sie nicht fragen, der Bildschirm ist längst wieder dunkel. Die Beschwerdeproblematik war zwischenzeitlich wieder schlechter geworden, Arm, Bein und Mundwinkel hängen wieder stärker. Irgendwie ist auffällig, dass der Befund immer dann stärker wird, wenn der Patient aufrecht ist, im Liegen scheint er sich etwas zu erholen. Ich frage, ob man nicht angesichts der Symptomatik vorsorglich eine Lyse durchführen solle. Dies wird verneint, solange kein Blut Clot nachgewiesen sei, würde man dies nicht tun.
Der Patient wird auf die Stroke Unit verlegt, zur BEOBACHTUNG.
Am nächsten Tag stellt sich heraus, dass in der Tat (so wie man es von der Symptomatik her laienhaft hatte vermuten können) ein Schlaganfall vorliegt.
Eine Therapie wird eingeleitet.
Inwieweit die verstrichene Zeit sich als heilungshemmend erweisen wird, kann nur vermutet werden. Aber – Die in der eigenen Familie erfahrenen Leuchtturmprojekte der Medizin- Zukunft lassen mich Angst und bange werden.
Ich zitiere Heinrich Heine: „Denk ich an Deutschland in der Nacht, werd ich um den Schlaf gebracht.“
Großer Gott, was für ein Desaster! Unfassbar, daß dies mitten in Deutschland passiert. Vielleicht solltest Du das mal die Frankfurter Allgemeine herantragen, so etwas gehört – anonymisiert – in die Öffentlichkeit.
Alles Gute für Euch!
P.S. Meine Tante, die hochbetagte Schwester meiner Mutter, lebt ja in Bad Kreuznach. Verwitwet, die Familie weit weg. Möge ihr ein gnädiges Schicksal diese Erfahrungen ersparen…
Fassungslos gelesen….
Nach 8 Stunden DVT online Kurs (PS: Dentalekt kann ich nur empfehlen – da macht Tele Sinn) habe ich herzlich gelacht und geweint zugleich.
Top geschrieben !!!
Gute Besserung!