Ein Muss für jeden Zahnarzt – Bester Beitrag zur Lage des Gesundheitsystems in Deutschland, denn ich je gelesen habe

Der nachfolgende Text – durch Zufall gelesen, von einem ärztlichen Kollegen aufgetan – sollte eigentlich Pflichtlektüre sein für alle Beteiligten im Gesundheitswesen.

Zumindest jedoch für Jeden, der in Erwägung zieht, diesen Beruf zu ergreifen.
Jeder hier nehme sich zum Wochenende die 5 Minuten Zeit, um in Ruhe die Bestandsaufnahme des Kollegen zu Ende zu lesen.

Da steht alles drin, was man wissen muss.
Um die richtigen Schlüsse zu ziehen.
Denn merke – der Artikel ist von 1966 und es hat sich NICHTS aber auch wirklich GAR NICHTS geändert in diesem unserem Lande.

Was uns zur Erkenntnis führt – wer auf Hilfe oder Abhilfe von aussen oder von oben hofft, der ist hoffnungslos naiv. Oder total deppert.

„NUR KASSENLÖWEN HABEN ERFOLG“

Im Frühjahr 1965 kehrte Dr. Alfred W. Bauer, Kinderarzt und Mikrobiologe, nach Deutschland zurück. Der deutschbürtige Mediziner, der in der Bundesrepublik promovierte, hatte einige Jahre lang in Amerika gearbeitet. Nun wollte er sich als frei praktizierender Kinderarzt in einer süddeutschen Mittelstadt niederlassen. Knapp ein Jahr später, im März 1966, ging Dr. Bauer wieder nach Amerika — sein Versuch, in der Bundesrepublik eine Praxis auszubauen, war gescheitert. In seinem „Erlebnisbericht eines Rückwanderers“ sucht er die Gründe dafür zu beschreiben: Das deutsche Krankenscheinsystem, so meint Bauer, bringe es mit sich, daß die Ärzte — in hartem Konkurrenzkampf um Privatpatienten und um Krankenkassen

Von Dr. Alfred W. Bauer

Nachdem ich mit meiner Frau und meinen drei Kindern in meiner früheren Heimatstadt in Süddeutschland eingetroffen war, ließ ich meine Familie vorübergehend dort und machte mich mit meinem neuen Opel auf die Reise, um einen geeigneten Ort für die Eröffnung einer Praxis zu suchen.

In der näheren Umgebung hielt ich des öfteren an, um mich mit praktizierenden Kinderärzten zu unterhalten. Zu meiner Überraschung erfuhr ich, daß in Deutschland kein Ärztemangel bestand. Im Jahre 1939 kam auf 1390 Einwohner ein Arzt. Jetzt, 1965, war das Verhältnis 1: 690 und damit eines der niedrigsten der ganzen Welt. Fast überall fiel mir der harte Konkurrenzkampf zwischen den eng benachbarten Ärzten auf.

Acht Wochen lang fuhr ich durchs Land und besuchte Ärzte, Verwandte und Freunde. Auf einer meiner Reisen suchte ich einen bekannten Kinderarzt mit einer großen Praxis für Privat- und Kassenpatienten auf. Er selbst war zu beschäftigt, um mich zu empfangen; so sprach ich mit seiner Frau. Sie riet mir, die Praxis eines kürzlich verstorbenen Kinderarztes, Dr. Kranz, in einer nahegelegenen Industriestadt zu kaufen*.

* Der Name wurde vom Autor geändert.

Dort, so sagte sie, würden sich mir in dieser Gegend die besten Möglichkeiten bieten. Dr. Kranz hatte eine gutgehende Praxis geführt und sich ein schönes Haus gebaut; doch drei Jahre danach, im Alter von 57 Jahren, hatte er sich zu Tode gearbeitet. Ich fuhr hin und stellte mich seiner Witwe und seiner Tochter vor.

Sechs Tage später erklärte ich mich bereit, die Praxis für 45 000 Mark zu kaufen. Davon sollten 10 000 Mark für die ziemlich armselige Einrichtung sein (kein Laboratorium, kein Mikroskop, keine Schreibmaschine) und 35 000 Mark für den Patienten-Stamm. Die Praxis von Dr. Kranz war, gemessen an den Einkünften, eine der größten in der Bundesrepublik. Sein jährliches Bruttoeinkommen hatte in den vergangenen fünf Jahren zwischen 90 000 und 160 000 Mark gelegen; das war etwa anderthalb- bis zweieinhalbmal soviel wie die durchschnittlichen Bruttoeinnahmen eines bundesdeutschen Kinderarztes.

Schon bald, nach zwei Wochen in meiner neuen Praxis, merkte ich, daß ich einen kolossalen Fehler gemacht hatte.

Zunächst einmal stellte sich heraus, daß es eine Praxis eigentlich gar nicht mehr gab.

In den vier Monaten seit dem Tode von Dr. Kranz hatten sich sehr viele Eltern seiner Patienten einen anderen Arzt gesucht. Und die meisten sahen offenbar keine Veranlassung, den neuen und unbekannten Doktor aufzusuchen. Kurzum, mit den 35 000 Mark Abstand sollte ich praktisch etwas Wertloses kaufen.

Dann, und das war entscheidender, machte ich befremdende Entdeckungen in den Akten der Praxis — ich hatte ja Zeit, darin zu lesen. Die Patientenkartei enthielt ungefähr 7100 Namen. Davon waren etwa 85 Prozent Kassenpatienten und nur 15 Prozent Privatpatienten; das ist in Deutschland das übliche Verhältnis. Doch ungefähr zwei Drittel der Einnahmen des Dr. Kranz stammten von Privatpatienten und nur ein Drittel von Kassenpatienten.

Dr. Kranz hatte im Jahr durchschnittlich von jedem Privatpatienten 70 Mark kassiert, hingegen sieben Mark von jedem Kassenpatienten. Offenbar hatte er seine Privatpatienten übertrieben behandelt, darauf deutete vor allem eine unglaublich hohe Zahl von Hausbesuchen. Mein Vorgänger muß richtiggehend geschuftet haben; er hatte 40 bis 60 Hausbesuche am Tag absolviert und außerdem noch 50 bis 90 Patienten nachmittags in seiner Sprechstunde abgefertigt.

Etwa 80 Prozent seiner Hausbesuche hatten den Privatpatienten gegolten — das war seine Haupteinnahmequelle. Viele dieser Patienten waren privatversichert; Dr. Kranz hatte sie an jedem Tag im Monat, außer sonntags, besucht.

Allein auf 40 Karteikarten waren insgesamt 6105 Hausbesuche verzeichnet, für eine Zeit von durchschnittlich 42 Monaten. Währenddessen hatten dieselben 40 Privatpatienten Dr. Kranz nur 145mal selbst in seiner Praxis aufgesucht, so daß auf jeweils 42 Hausbesuche nur ein Praxisbesuch kam. Die auf diesen 40 Karten verzeichneten Honorare beliefen sich auf die schwindelerregende Summe von 60 000 Mark.

Von diesen 40 Patienten hatten 23 sogar Dr. Kranz nicht ein einziges Mal in seiner Praxis aufgesucht. Über sie gab es keine Krankenberichte, denn Dr. Kranz hatte sich über Patienten, die nicht in seiner Praxis erschienen nahezu nichts notiert. Nur einige Diagnosen waren in einer winzigen Handschrift zwischen den Reihen mit Kreuzen für die Hausbesuche vermerkt.

Die Unterlagen über die anderen Patienten bestanden in einigen kaum lesbaren Bleistiftnotizen. Außer gelegentlichen lückenhaften Blut- oder Urin-Werten fehlten jegliche Laborbefunde. Nirgends erschienen in diesen dürftigen Unterlagen Angaben über Untersuchungen der Patienten selbst, über die Abgrenzung der Diagnosen, die Therapie oder darüber, wie die jeweilige Behandlung gewirkt hatte.

Einer stattlichen Anzahl von Privatpatienten war Dr. Kranz offenbar besonders entgegengekommen. Einige Patienten, deren Krankenversicherung die Kosten nur teilweise deckte, hatten ihn anscheinend um Hilfe gebeten; so hatte er mehr Leistungen in Rechnung gestellt, als er wirklich geboten hatte.

Einige Patienten zum Beispiel erhielten von ihrer Versicherung von ihren aufgeblähten Rechnungen 75 Prozent zurückerstattet — etwa bei einem Arzthonorar von 200 Mark also 150 Mark. Dann gewährte Dr. Kranz, wie aus den Unterlagen hervorging, diesen Patienten einen Rabatt von 25 Prozent. Auf diese Weise brauchten die Patienten, die ordnungsgemäß mit 150 Mark hätten belastet werden müssen selber überhaupt nichts zu bezahlen. Wenn ihm die fingierten Kosten auch keine zusätzlichen Einnahmen einbrachten, so trugen sie doch dazu bei, diese Privatpatienten seiner Praxis zu erhalten.

Daß Dr. Kranz damit die Versicherungen betrogen hatte, wäre für jeden aus seinen Akten ersichtlich.

Frau Kranz hatte für die Privatpraxis ihres Mannes die Buchführung übernommen; ihre Notizen enthüllten, daß fingierte Hausbesuche berechnet wurden. So hatten einige Patienten in abgelegenen Dörfern die Wegegelder des Arztes nicht mitversichert. In diesen Fällen trugen die Karten den Vermerk: “Keine Kilometergelder. Berechnung zusätzlicher Hausbesuche.” Die tatsächlich abgestatteten Hausbesuche waren als Kreuze mit Tinte eingetragen, die fingierten Besuche mit Bleistift.

Ich beanstandete meinen Vertrag gegenüber der Witwe und erklärte ihn wegen Irrtums und wissentlicher Täuschung für ungültig.

So kam der Fall vor die zuständige Ärztekammer und die Krankenkassenverwaltung. Es war August, und die Leiter beider Organisationen waren auf Urlaub. Die beiden Stellvertreter luden mich vor, nachdem sie meinen Brief gelesen und mit Frau Kranz Rücksprache genommen hatten.

Zu meiner Überraschung wurde mir mitgeteilt, daß ich nur eine geringe oder gar keine rechtliche Handhabe hätte, den Vertrag anzufechten. Die Herren behaupteten, Dr. Kranz habe seine Praxis durchaus nach der ortsüblichen Ordnung geführt.

Mir wurde der gute Ruf meines Vorgängers vorgehalten. Es habe niemals irgendwelche Klagen über ihn gegeben, und seine beruflichen Fähigkeiten seien über jeden Zweifel erhaben gewesen. Daß er keine Krankenberichte geführt habe, sei nichts Außergewöhnliches, weil ältere Ärzte wie er über eine reiche Erfahrung verfügten, ihre Patienten gut kennen, und ohnehin zu beschäftigt seien, um auch noch große Krankenberichte zu schreiben.

Die Vertreter der Ärztekammer warnten mich, daß die Chancen einer Vertragslösung vor Gericht für mich außerordentlich gering seien: Keiner der hier ansässigen Kinderärzte würde bereit sein, gegen einen Fachkollegen, noch dazu einen toten, auszusagen.

Nachdem mir meine Verhandlungspartner unmißverständlich zu verstehen gegeben hatten, daß ich das deutsche Ärztesystem einfach nicht verstünde und dem Andenken eines hingebungsvollen Kollegen eklatante Respektlosigkeit erwiesen hätte, arbeiteten wir ein neues Abkommen aus: Statt für 45 000 Mark sollte ich die Praxis für 20 000 Mark kaufen.

Ich mietete daraufhin einen Teil eines Vierfamilienhauses für 600 Mark im Monat und zog mit meiner Frau und meinen drei Kindern dort ein. Ich war sicher, die Praxis schnell wieder aufbauen zu können. Würde es mir hier nicht gelingen, so würde ich nirgends in der Bundesrepublik Fuß fassen können.

Ich hatte allerdings die Schwierigkeiten mit dem mir weitgehend unbekannten Krankenkassensystem stark unterschätzt. Das bundesdeutsche Krankenkassenwesen ist unvorstellbar kompliziert.

Dieser Apparat beschäftigt Tausende von Schriftführern und Buchhaltern auf allen Stufen der Bürokratie; er verschlingt viele Millionen Mark von den Aufwendungen für die Gesundheit und trägt so mit zu den hohen Kosten des staatlich reglementierten westdeutschen Medizinwesens bei.

In großen Bürohäusern werden alle Leistungen eines Arztes anhand der Zahl der behandelten Patienten (also keine Qualitäts-, sondern Quantitätskontrolle) von einem Heer von Angestellten geprüft, die nach Abschluß eines jeden Quartals drei Monate brauchen, um ihre Berechnungen abzuschließen und den Ärzten Bilanzen und Honorarschecks zu übersenden.

Sämtliche Rezepte werden überprüft, damit die Kassenpatienten nur die ihnen zukommenden Medikamente erhalten — berechnet nach dem Kostensatz pro Patient. Ein Arzt, der zehn Prozent mehr Arzneimittel verschreibt, als im Durchschnitt verordnet werden, erhält zunächst nur eine Verwarnung. Wenn er den zugebilligten Satz jedoch weiterhin überschreitet, muß er die Differenz selber bezahlen.

Ich habe von einigen aufsässigen Ärzten gehört, die solche Kassen-Bescheide kommentarlos an die Wände ihrer Wartezimmer hängten. Daraufhin forderte die Kasse sie unverzüglich auf, diese Dekoration zu entfernen, andernfalls würden sie ihre Kassenzulassung verlieren.

Nach dem Vertrag, der für die Jahre 1965 bis 1966 zwischen Ärzten und Krankenkassen abgeschlossen worden war, erhielt ein Arzt für einen Patientenbesuch in seiner Praxis drei Mark, für eine Konsultation mit gründlicher Untersuchung fünf Mark, für einen Hausbesuch am Tage einschließlich Fahrtspesen sieben Mark. Die Gesamtvergütung für einen Patienten je Quartal betrug durchschnittlich zwölf Mark.

Tut ein Arzt mehr für seine Kassenpatienten in einem Quartal und übersteigen seine Rechnungen somit den Durchschnitt, rechnet die Krankenkasse ihm das vor; er erhält dann den Bescheid, daß zusätzliche Leistungen nicht vergütet würden.

Die Einnahmen für die Behandlung von Kassenpatienten betragen 15 bis 20 Prozent des Satzes, der in den Vereinigten Staaten als angemessen gilt; die Lebenshaltungskosten in Deutschlands betragen jedoch 85 Prozent des vergleichbaren Aufwands in Amerika. Ich rechnete mir aus, daß ich 400 bis 500 Kassenpatienten im Monat betreuen müßte, um meine Praxiskosten decken zu können, und weitere 200 Patienten für unseren Lebensunterhalt.

Die Privatpatienten, die 15 Prozent der Krankenzahl einer durchschnittlichen Praxis ausmachen, können finanziell nicht sehr ins Gewicht fallen — vorausgesetzt, sie werden anständig behandelt. Ich selbst war nicht bereit, den doppelten Honorarsatz zu berechnen, wie es in Deutschland weitgehend der Fall und für einen Arzt, der sich ein Haus bauen möchte, anscheinend auch unerläßlich ist.

Dr. Kranz war dafür bekannt gewesen, daß er den doppelten Satz nahm. Wie viele andere Ärzte hatte er zwei Warteräume — einen einfachen mit abwaschbarem Mobiliar für die Kassenpatienten und einen gut ausgestatteten mit besseren Möbeln, mit Teppichen und Vorhängen für die Privatpatienten.

Kinder, deren Väter mehr als 1200 Mark im Monat verdienten, wurden mit großem Entgegenkommen behandelt. Kinder von ärmeren Kassenpatienten mußten hingegen, auch wenn sie zuerst gekommen waren, oft stundenlang warten. Dr. Kranz, so wurde mir gesagt, bat oft zwei bis vier Kassenpatienten auf einmal in sein Sprechzimmer; er sprach mit mehreren Müttern gleichzeitig, machte Injektionen, wog die Patienten und nahm sich selten mehr als fünf Minuten Zeit für einen dieser Patienten.

Die Behandlung von Kassenpatienten ist in den meisten Fällen eine Art Massenabfertigung mit willkürlichen Methoden und Zufallsergebnissen. Es ist daher kein Wunder, daß die Berichte über ernste Erkrankungen, die vom Kassenarzt nicht erkannt wurden, nicht zu zählen sind. Viele Ärzte untersuchen nicht einmal ihre Patienten, sondern lassen sich die Beschwerden schildern und verordnen dann etwas. Andere untersuchen nur das sogenannte Kassenpatienten-Dreieck — den Ausschnitt, der sichtbar wird, wenn ein Patient die oberen drei Hemdenknöpfe öffnet.

Viele deutsche Ärzte wenden merkwürdige Verfahren an, um aus ihrer wirtschaftlichen Misere herauszukommen. Sie verlegen sich etwa auf eine Art Privatmedizin, die mit den modernen medizinischen Erkenntnissen kaum noch etwas oder nichts mehr zu tun hat.

So führt ein mir bekannter Arzt eine ertragreiche Privatpraxis in einem Kurort, indem er hauptsächlich Irisdiagnosen stellt. Er behauptet, innere Krankheiten, auch wenn sie schon zurückliegen, aus den Augen lesen zu können.

Ein anderer hochgeachteter Arzt in einem Nachbardorf hat ein Vermögen mit Verjüngungskuren durch Frischzellentherapie gemacht. Das Honorar für eine Kur mit fünf bis acht Injektionen beträgt etwa 800 Mark — mehr als die Einnahmen aus hundert Hausbesuchen bei Kassenpatienten. Die deutsche medizinische Literatur enthält eine stattliche Zahl von Berichten über die Komplikationen einer solchen Behandlung.

Einige Ärzte locken Privatpatienten mit der Akupunktur, dem alten chinesischen Verfahren zur Behandlung innerer Krankheiten, das darin besteht, die Haut mit goldenen oder silbernen Nadeln zu ritzen oder zu punktieren.

Die Homöopathie ist in Deutschland erstaunlich weit verbreitet. Mehrere große pharmazeutische Firmen produzieren eine Vielzahl von Medikamenten aus stark verdünnten pflanzlichen und tierischen Gewebeextrakten. Hauptvorzug dieser “Heilmittel” ist, daß sie keine Nebenwirkungen haben. Als Therapeutika sind sie wertlos; doch die Krankenkassen bezahlen für diese kostspieligen Flüssigkeiten, ohne den Nachweis der Wirksamkeit zu verlangen — sie verlassen sich ganz einfach auf Gutachten.

Die bundesdeutschen Krankenkassen scheinen nicht in der Lage zu sein die öffentliche Gesundheitspflege von der öffentlichen Quacksalberei zu trennen. Dies ist eines der vielen Probleme des mit Steuergeldern finanzierten Gesundheitsdienstes.

Da ich nicht bereit war, den üblichen doppelten Honorarsatz zu verlangen, und da ich weder Frischzellen-Therapeut noch Kräuterdoktor bin, konnte ich die geringen Kasseneinnahmen nicht durch hohe Erträge aus meiner Privatpraxis ausgleichen. Meine wohlmeinenden, freundlichen und sehr hart arbeitenden Kollegen konnten mir nur raten, meine amerikanischen Gewohnheiten abzulegen und die deutschen Praktiken so schnell wie möglich zu übernehmen, um wirtschaftlich keinen Schiffbruch zu erleiden.

Ebensowenig konnte ich mich an die ehrwürdige Tradition der Hausbesuche gewöhnen. Die Kassenvorschrift, nach der Hausbesuche nur gestattet sind, wenn der Patient nicht selbst in die Praxis kommen kann, wird nicht beachtet. Bald war ich als der neue Kinderarzt aus Amerika verschrien, der sich weigerte, Hausbesuche zu machen, weil er zu faul war.

Mütter, die zum erstenmal in meiner Praxis erschienen, fragten für gewöhnlich Sie machen doch Hausbesuche, wenn wir Sie rufen, nicht wahr?”

Im August antwortete ich noch: “Ja, in dringenden Fällen, oder wenn ich es für notwendig halte.”

Nach dem 1. September jedoch antwortete ich leutselig: “Ja, gern, wann immer und wohin immer Sie es wünschen.”

Zumindest 90 Prozent meiner Hausbesuche waren freilich unnötig, die übrigen waren großenteils nur aus Mangel an Verkehrsmitteln erforderlich. Ich schlug auch meinen Kollegen vor, unnötige Hausbesuche in der Stadt einzustellen; doch sie erhoben Einwände. So fuhr jeder Kinderarzt weiter jeden Tag durch die Stadt und legte im Durchschnitt täglich 100 Kilometer zurück.

Nun aber fehlte mir noch mehr die Zeit für die Zusammenarbeit mit anderen Ärzten, wie ich sie aus unserer erfolgreichen Gruppenpraxis in Amerika gewohnt war. Während sich Rechtsanwälte und Architekten in Deutschland zu Arbeitsgemeinschaften zusammenschließen, schrecken die Ärzte davor zurück. Jüngere Mediziner, die in den Vereinigten Staaten die Vorteile des Gruppenpraxis-Systems für Ärzte und Patienten kennengelernt haben, werden das womöglich bald ändern.

Ich hatte geplant, in meiner Praxis ein kleines bakteriologisches Labor einzurichten und es auch meinen Kollegen zur Verfügung zu stellen. Diesen Plan gab ich jedoch bald auf. Ich erkannte, daß ich meine ganze Zeit und meine ganze Energie darauf verwenden mußte, möglichst viele Patienten zu behandeln und möglichst viele Krankenscheine zu sammeln.

Niemand schien an dieser medizinischen Unzulänglichkeit Anstoß zu nehmen. Selbst eines der beiden Kinderkrankenhäuser der Stadt (ein Haus mit 300 Betten) konnte keine bakteriologischen Tests machen — und das im Lande eines Robert Koch und eines Paul Ehrlich.

Abermals kam ich mit dem allgemeinen Brauch in Konflikt, als ich keine antibakteriellen Medikamente zur Behandlung der alltäglichen Virus-Infektionen der oberen Luftwege und zur Behandlung von Diarrhöen verordnete. Ich verschrieb weniger Arzneimittel als jeder andere Kinderarzt in der Stadt und plädierte statt dessen für Diät, Kühlungen, richtige Kleidung und eine gesunde Lebensweise im allgemeinen. Trotz solcher sparsamen Verordnungsweise erhielt ich von der Krankenkasse zwei Rechnungen über eine medizinische Seife, die ich einem Patienten mit einer Hautflechte verschrieben hatte. Diese Seife wird, wie viele andere Mittel, von der Krankenkasse nicht bewilligt.

Die Entscheidungen der Kassen, ob sie ein Medikament bezahlen oder nicht bezahlen wollen, entbehren oft jeder Logik. Die Kosten für vorbeugende Keuchhusten-Impfungen werden nicht erstattet, aber der mehrwöchige Klinikaufenthalt für Kinder mit Keuchhusten wird anstandslos bezahlt.

Oft verbrachte ich eine halbe Stunde in einem überheizten Wohnzimmer, damit beschäftigt, ein stark fieberndes, erschöpftes Kind zunächst aus den Tiefen eines gepolsterten Kinderbettes. aus vier Decken <die oberste das in Deutschland übliche Federbett) und aus seinen Gummihüllen zu befreien und das Baby dann dadurch abzukühlen, daß ich es vor den entsetzten Augen der Eltern abwusch.

Sie waren davon überzeugt, daß ihr Kind infolge dieser Behandlung am nächsten Tag eine Lungenentzündung haben würde. Keine der Hunderte von Müttern schien je gehört zu haben, daß ein stark fieberndes Kind abgekühlt werden muß. Alle hingen der Vorstellung von vor 40 Jahren an, daß Fieber mit stärkerer Heizung und dickeren Decken bekämpft werden müsse. Die anderen Kinderärzte schienen keine Zeit zu haben, die Eltern eines Besseren zu belehren. Sie waren zu sehr damit beschäftigt, hinter ihren Krankenscheinen herzujagen.

Ich verbrauchte viel Zeit mit dem Versuch, meine Patienten zu erziehen und ihnen beizubringen, wie man unnötige Praxis- oder Hausbesuche vermeidet und harmlose Erkrankungen wie die üblichen Erkältungen und einfachen Diarrhöen selbst behandelt.

Es gelang mir vereinzelt, Vertrauen zu erwecken; doch die Mehrheit der Patienten verspürte offenbar Unbehagen. Wie vorauszusehen war, wurde ich nur wenig empfohlen, und meine Praxis erweiterte sich nur langsam.

Dann versuchte ich ein Anmeldesystem einzuführen. Meine Wartezimmer, In denen mehr als 30 Patienten Platz hatten, blieben also leer, die meisten Patienten konnten sofort ins Sprechzimmer kommen. Einer meiner Kollegen hielt dieses Verfahren für untunlich und schlug vor, jeweils 15 Patienten am Nachmittag zur gleichen Zeit zu bestellen: Wartenden Kranken, so sagte er, scheint die Zahl der anderen Patienten zu imponieren, sie gewinnen dadurch Sicherheit und Vertrauen in den neuen Arzt.

Kurzum, indem ich wirksam praktizierte, schadete ich meiner Praxis. Ich schadete ihr auch dadurch, daß ich ehrlich blieb. Beispielsweise konnte ich bei einem kleinen Kind frühzeitig eine Hirnhautentzündung diagnostizieren. Am nächsten Tag brachte mir die Mutter als Zeichen ihrer Dankbarkeit drei Krankenscheine für ihre anderen Kinder. Weil sie jedoch gesund waren, reichte ich die Scheine unausgefüllt ein. Etliche Kollegen, sogenannte Kassenlöwen, hielten das für den Gipfel selbstzerstörerischer Dummheit.

Die betrügerische Unsitte, Krankenscheine auch von gesunden Patienten einzuheimsen, Diagnosen zu erfinden und die Krankenscheine dann bei der Kasse einzureichen, ist weit verbreitet und in mancher Praxis sogar an der Tagesordnung. Da das Honorar für jeden Patienten pro Quartal begrenzt ist, bleibt dies die einzige Möglichkeit, die Bezüge von der Kasse zu erhöhen. Manche Familien sind so gut erzogen, daß sie ihren Ärzten nach Beginn des neuen Quartals Krankenscheine für die ganze Familie vorlegen, von der Großmutter bis zum Kleinstkind, ob sie nun gesund oder krank sind.

Die Regierung hat zwar einmal eine Reform des Krankenkassenwesens angestrebt, nach der die Patienten einen Teil der Arztkosten hätten selbst tragen müssen. Dadurch wäre die Unsitte der Krankenschein-Hamsterei stark eingeschränkt worden. Leider wurde dieser Plan von der Mehrheit der deutschen Ärzte abgelehnt.

Ungefähr 20 Prozent meiner Patienten hatten keine Krankheiten. So vermerkte ich auf ihren Krankenscheinen: “Kind gesund, Untersuchung negativ.” Und ich war mir darüber klar, daß dafür nichts bezahlt wird.

Vertreter der Krankenkasse erklärten mich aber für töricht. Ihrer Ansicht nach ist bei jedem Patienten irgend etwas nicht ganz in Ordnung, so daß sich immer eine Diagnose stellen läßt. Tatsächlich waren meine vierteljährlichen Einnahmen von der Krankenkasse “beklagenswert niedrig”, wie ein Kassenangestellter gutmütig erklärte.

Um in Deutschland mit einer Arztpraxis Erfolg zu haben, muß der Arzt — so stellte ich fest — bereit sein, es mit seinem Gewissen nicht allzu genau zu nehmen und minderwertige Massen-Medizin zu betreiben. Dennoch wollte ich mich nicht gern an eine Klinik verpflichten, obwohl mir die Chance geboten wurde, als stellvertretender Chefarzt in einem Kinderkrankenhaus tätig zu sein. Solche Stellungen bringen ein Jahresgehalt von ungefähr 35 000 Mark ein. Ich sah mich jedoch nicht in der Lage, mich wieder an ein deutsches Krankenhaus mit einem festangestellten Ärztekollegium zu gewöhnen.

Der Chefarzt der chirurgischen Abteilung ist gewöhnlich gleichzeitig Leiter des Krankenhauses. Das bedeutet, daß er über dem Krankenhaus-Verwalter steht, nicht aber, daß ihm die anderen Stationschefs unterstellt sind. Sie sind vielmehr auf ihrem Stockwerk allmächtig und leiten ihre Abteilungen wie Primadonnen.

Das Jahreseinkommen eines Chefchirurgen beträgt zwischen 80 000 und 200 000 Mark; es liegt damit weit über dem Einkommen jedes anderen Arztes. An zweiter Stelle rangiert der stellvertretende Chefarzt. Er mag die gleiche Arbeit tun wie der Chefarzt, oft sogar noch mehr, und ist in Abwesenheit des Chefarztes der verantwortliche Vertreter — aber er verdient mitunter nur ein Viertel.

Die deutschen Fachärzte kämpfen erbittert um den höchsten Krankenhausposten; gewöhnlich bewerben sich 50 Kandidaten und mehr um eine freie Stelle. Viele stellvertretende Chefärzte erkennen nach Jahren harter Arbeit als zweiter Mann, daß sie die Spitze nie erklimmen werden. So kann es vorkommen, daß ein stellvertretender Chefarzt, der fünf bis zehn Jahre Magen reseziert, Gallenblasen entfernt und Kröpfe operiert hat, plötzlich das Krankenhaus verläßt und sich als praktischer Arzt niederläßt, um für den Rest seines Lebens keine größeren Operationen mehr vorzunehmen — eine ungeheure Verschwendung an Kenntnissen und Erfahrungen.

In den Vereinigten Staaten war ich es gewohnt gewesen, in der pädiatrischen Abteilung eines Krankenhauses als einer unter mehreren Fachärzten tätig zu sein, von denen jeweils einer für die Dauer von zwei Jahren zum Chefarzt gewählt wird. Außerdem ist in den USA jeder Kinderarzt für nur wenige (selten mehr als vier) Krankenhauspatienten verantwortlich und kann ihnen so die beste Fürsorge angedeihen lassen.

In den Krankenhäusern der Bundesrepublik betreut der Chefarzt oft über 200 Betten und soll seine Patienten alle kennen und ihre Behandlung überwachen. Das ist natürlich unmöglich.

Der gesunde Menschenverstand gebietet, diese Mammutabteilungen in kleinere Einheiten zu unterteilen, denen jeweils ein Spezialist mit einem Team von Assistenzärzten und Medizinalassistenten vorsteht. Doch viele deutsche Krankenhäuser mit mehr als 200 Betten verfügen nur über chirurgische und innere Abteilungen, die jeweils von einem Chefchirurgen und einem Chefinternisten geleitet werden.

Die beiden Abteilungen vertreten angeblich alle Fachrichtungen, auch wenn es in der Stadt einen Geburtshelfer, einen Kinderarzt und einen Hals — Nasen — Ohren-Facharzt mit eigener Praxis gibt. Diese Spezialisten haben oft nicht einmal den Status eines Belegarztes, weil der Chirurg und der Internist des Krankenhauses ihre Betten eifersüchtig gegen jeden Eindringling verteidigen. Für die oft sehr gut ausgebildeten Fachärzte ist es entmutigend, ernstlich erkrankte Patienten in ein Krankenhaus einzuweisen und somit einem Kollegen übergeben

zu müssen, der die Probleme ihrer Patienten weniger gut kennt.

Die meisten bundesdeutschen Krankenhäuser führen kein nennenswertes Ausbildungsprogramm für Medizinalassistenten und Assistenzärzte durch, abgesehen von gelegentlichen Lektionen am Krankenbett. Viele Krankenhäuser besitzen nicht einmal eine Bibliothek. Die Mehrzahl der Kliniken würde den amerikanischen Anforderungen für eine Akkreditierung nicht genügen. Ohnehin wird die Ausbildung an deutschen Krankenhäusern in den Vereinigten Staaten nicht anerkannt.

Fraglos ist die Bundesrepublik heute auf manchen Gebieten der Medizin ein unterentwickeltes Land. Einst Lehrstätte der größten Ärzte der Welt, ist Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr in der Lage, an die Spitze des medizinischen Fortschritts zurückzukehren.

Es mangelt nicht etwa an brillanten Köpfen oder an Geld; die Nation hat beides reichlich. Das Übel steckt vielmehr in der Krankenhaus-Hierarchie, die jedes Wetteifern um erstklassige Leistungen lähmt, und in dem Krankenkassensystem, das Quantität, nicht aber Qualität belohnt.

Außerdem ist dem Deutschen, gewohnt zu befehlen und zu gehorchen, die Zusammenarbeit auf gleicher Ebene noch neu — das den Amerikanern so vertraute “team work” und “team spirit”. Solange einsame Genies durch Beobachtung und Laborexperimente bahnbrechende Leistung auf dem Gebiet medizinischer Theorie und Praxis vollbringen konnten, leisteten die Deutschen tatsächlich Großes. Doch die meisten Fortschritte in der modernen Medizin wurden und werden auch künftig durch team work erzielt. Das Wort “team” aber ist nicht ins Deutsche übersetzbar.

Mit am unerfreulichsten in deutschen Krankenhäusern ist der unnötig lange Klinik-Aufenthalt der Patienten. Durchschnittlich sind es 21 Tage — gegenüber sechs Tagen in den USA.

Da die Kassen Tagessätze zahlen und dieser Satz nur etwa 24 Mark beträgt, wird offenkundig die Entlassung so lange hinausgezögert, bis der Patient sich nur mehr erholt.

Sobald die Intensive Behandlung abgeschlossen ist, sobald also der Behandlungsaufwand geringer wird, kommt das Krankenhaus aus den roten Zahlen heraus. Müßte eine Klinik ausschließlich ernstlich erkrankte Patienten behandeln und sie so bald wie möglich wieder entlassen, würde sie schnell in finanzielle Schwierigkeiten geraten und mehr Subventionen benötigen als andere Häuser.

Es scheint selbstverständlich, daß überfüllte Krankenhäuser erweitert werden müssen, mehr Betten brauchen und neue Gebäude. Das bedeutet auch höhere Gehälter, mehr Macht und größeres Prestige für den Chefarzt und den Verwalter.

Die Stadt, in der ich arbeitete, zählte 310 000 Einwohner und verfügte erstaunlicherweise über mehr als 500 Kinderkrankenbetten. In den Vereinigten Staaten hatte meine pädiatrische Abteilung mit nur 20 Betten einen Bezirk mit 85 000 Menschen betreut. In deutschen Krankenhäusern sah ich in manchen Kinderstationen, wie Jungen in ihren Nachthemden umhersprangen, Kissenschlachten oder andere Spiele machten und herzhafte Mahlzeiten zu essen bekamen. Offenbar wurden diese Kinder nicht gerade wegen einer Krankheit dort behalten.

Aber auch die Patienten bedrängen oft den Arzt, sie in ein Krankenhaus einzuweisen, damit sie für eine Weile dem Beruf oder ihren Hausfrauenpflichten entkommen. Ich verlor mehrere Kassenpatienten, weil ich mich weigerte, sie wegen geringfügiger Krankheiten in eine Klinik zu schicken.

Werden sich die deutschen Ärzte jemals den vielfachen Sklavendiensten entziehen können? Ich wüßte nicht, wie. Die Ärzteschaft ist in rivalisierende Fraktionen und Organisationen zersplittert. Zu keiner Frage äußern sie sieh einstimmig. Es gibt eine Vereinigung für die leitenden Krankenhausärzte, eine für die Medizinalassistenten und Assistenzärzte der Kliniken (den Marburger Bund), zwei für Ärzte mit eigener Praxis (Hartmann-Bund und Verband niedergelassener Ärzte), eine für die Medizinalbeamten, eine für die Vertrauensärzte und so fort. Jede Gruppe vertritt Interessen, die den Interessen der anderen Vereinigungen oft entgegenstehen.

In den häufigen endlosen Verhandlungen mit den Krankenkassen über neue Verträge kämpfen die deutschen Ärzte für Erhöhungen der Honorarsätze um fünf oder zehn Prozent — zum Beispiel dafür, die Vergütung für eine Konsultation mit gründlicher Untersuchung von fünf auf 5,50 Mark anzuheben. Dabei wäre das Dreifache gerechtfertigt.

In den kommenden Jahren wird die Bundesrepublik weiterhin zu den Ländern mit den meisten Ärzten gehören. Gegenwärtig legen etwa 4800 Studenten jährlich das Mediziner-Examen ab; aber nur 2200 Ärzte setzen sich zur Ruhe.

Die medizinischen Fakultäten der Universitäten sind überfüllt. Doch in dem Maße, wie die Zahl der Ärzte zunimmt, wird sich ihre Verhandlungsposition weiterhin verschlechtern. Dann wird es wahrscheinlich zu einer Massenemigration deutscher Ärzte kommen.

Nach sieben Monaten Praxis in Deutschland gelangte ich zu der Überzeugung, in dem herrschenden System meinen Maßstäben als Facharzt nicht gerecht werden zu können. Wie die meisten anderen deutschen Kinderärzte hatte ich keinen Zugang zu Krankenhausbetten. Ich wurde zu einem praktischen Arzt für die jüngere Altersgruppe degradiert, der eine Art Massensiebung vorzunehmen hatte.

In den sieben Monaten meiner Praxistätigkeit hatte ich keine einzige intravenöse Infusion machen können, weder feinere Labortests gemacht noch den Behandlungsplan für einen Diabetiker aufgestellt. Ich hatte keinen Fall von Hirnhautentzündung, Sepsis oder anderer schwerer Infektionen behandelt. Ich hatte nicht einmal eine Röntgenaufnahme des Gehirns, ein Elektrokardiogramm, eine Knochenmarksprobe oder eine Bakterienkultur gesehen. Zur Behandlung von Neu- und Frühgeborenen, meinem Spezialgebiet, war ich nicht hinzugezogen worden.

Ich ertrank im Bürokratismus und wurde mit Broschüren, Memoranden, Berichten und Verfügungen der Krankenkassen überschüttet. Das Honorar, das ich pro Patient und Quartal erhielt, schien mir allein für die Schreibarbeiten angemessen. Erst im letzten Monat verdiente ich genug, um meine monatlichen Praxiskosten in Höhe von 2400 Mark zu decken.

An jedem Werktag machte ich ungefähr fünf Hausbesuche und empfing zehn Patienten in der Praxis, an den Wochenenden erhöhte sich die Zahl meiner Hausbesuche auf durchschnittlich 30. Dazu brauchte ich dieselbe Energie wie für meine Tätigkeit in den USA, wo ich täglich 28 Patienten in meiner Praxis empfing und außerdem noch im Krankenhaus arbeitete.

Am Ende des siebten Monats bot ich meine Praxis zum Verkauf an. Als ich drei interessierten Krankenhausärzten die Bilanz der letzten Monate vorlegte, verloren sie sofort das Interesse. Alle drei gaben aber auch zu, daß sie Angst hätten, die Sicherheit eines Krankenhauslebens gegen den Druck und die Not einer Kinderarztpraxis unter dem gegenwärtigen Krankenkassensystem einzutauschen.

So verkaufte ich den größten Teil meiner Einrichtung und meiner Utensilien und verschenkte den Rest. Die Enttäuschung und der finanzielle Verlust — ungefähr 90 000 Mark — waren beträchtlich.

Als ich aufbruchbereit war, hängte ich ein Schild an die Tür meiner Praxis, das ich — es war Karneval — mit einer Spottfigur dekorierte: “Kinderarzt Bauer ist am Verhungern. Diese Praxis wird am 1. März 1966 geschlossen. Die Krankenkassenpatienten des Dr. Bauer werden im März von einem Vertreter betreut.”

Wenige Tage später erhielt ich ein Schreiben des Vorsitzenden der zuständigen Ärztekammer. Ich erhielt Anweisung, das Schild sofort zu entfernen, da ein so verfehlter Humor mit der Berufsehre der Ärzte unvereinbar sei.

Unter dem herrschenden System des Gesundheitsdienstes im bundesdeutschen Wohlfahrtsstaat wird von Verwaltung, Patienten und Ärzten erwartet, daß sie zufrieden und glücklich sind. Wenn ein tüchtiger und fleißiger Arzt, der gute Arbeit leisten und gleichzeitig die geschriebenen und ungeschriebenen Regeln ethischer Praxis befolgen möchte, finanziell nicht zurechtkommt und dies auch noch offen eingesteht, stört er diese Illusion.

DER SPIEGEL 9/1968

 

Ein Gedanke zu „Ein Muss für jeden Zahnarzt – Bester Beitrag zur Lage des Gesundheitsystems in Deutschland, denn ich je gelesen habe

  1. Hallo Ha-Wi,
    danke für diesen schönen Artikel. In der Tat scheint sich nur wenig verändert zu haben in der Bundesrepublik. Und in der Tat sind heute ca. 80% der niedergelassenen (Haus-) Ärzte vom Wissenspool und dem aktuellen Stand in der Medizin abgeschnitten, allein schon deshalb, weil die wenigsten willens sind, Studien in englischer Sprache zu lesen. Großes Drama!
    Aber ich bin überzeugt, dass man hier Human- und Zahnmedizin voneinander trennen muss, denn in der Zahnmedizin sieht es anders aus. Da hinkt USA in der Fläche weit hinterher, wie die allermeisten anderen Länder dieser Welt auch. Aber Deutschland bemüht sich hier nach Kräften, diese Diskrepanz auszugleichen und den Standard nach unten zu korrigieren…
    Schönes Wochenende,
    Harald.

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