Fall zum Wochenende – reden wir Tacheles …

Vielen Dank für die Kommentare zum Thema.

Ich möchte als Einstieg in den heutigen Beitrag einen Kommentar herausheben:

Abend! Ich versuche immer den Patienten in so einer Situation sozusagen in die Position des Patienten VORHER zu dirigieren:“ Tut mir leid das ich bei dem Patienten gerade eben mehr Zeit benötigt habe als ursprünglich eingeplant weil noch ein akuter Schmerzpatient versorgt werden musste, aber ich nehme mir für jeden Patienten die Zeit die benötigt wird um die Arbeit optimal auszuführen, und breche nicht mittendrin ab nur um einen weiteren Patienten zu sehen, das verstehen Sie doch sicher. Sie wollen doch sicher auch das ich mir für Sie die selbe Zeit und Sorgfalt nehme, oder? Danke für Ihr Verständnis, dann wollen wir jetzt mal loslegen!“

So mach ich das. Wenn der Patient dann noch schlecht drauf ist biete ich neuen Termin an…

Wie läuft das bei euch?

Bei uns oder besser bei mir ist es so, dass jede Wartezeit des Patienten mir körperliche Schmerzen verursacht. Ich spüre gewissermassen mein Magengeschwür wachsen, wenn dem nicht so sein sollte. Ein Kollege erzählte mir einmal (und ich glaube ihm), dass ihm ganz egal sei, wie lange die Patienten warten müssen, auch wenn es Stunden sind. Ich bewundere das, denn es macht das Arbeiten soviel leichter, aber ich kann das nicht. Ich möchte, dass die Patienten punktgenau behandelt werden und wir tun ganz ganz viel, damit es auch genau so ist. Ein pünktlicher Behandungsbeginn, auf die Minute genau, ist also kein blosses Lippenbekenntnis, sondern in jedem einzelnen Falle Ziel unserer Planungsbemühungen.

Im vorliegenden Fall kann ich nicht einmal sagen, woran es lag, dass besagte Patientin 30 Minuten warten musste. War es eine plötzlich sich auftuende Komplikation in der Behandlung des Patienten zuvor oder kam ein Patient zuvor spät, denn auch das kommt vor.

Was ich aber weiss, ist, dass besagte Patientin sich im Vorgespräch schon als “ich sag mal resourcenfordernder” Patient vorgestellt hat. Soll heißen, es sind ganz ganz viele Aspekte der Behandlung sowie aller Behandlungsalternativen erklärungsbedürftig, jedes noch so kleine Detail erfährt eine aussergewöhnliche Aufmerksamkeit, der entsprochen wird, mit dem dafür notwendigen und gelieferten aussergewöhnlichen Zeitrahmen.

Und jetzt komme ich auf obigen Kommentar zu sprechen und möchte antworten: Natürlich tun wir das und haben dies oft genug getan in der Vergangenheit, dieses Entschuldigen, Erklären und um Verständnis bitten.

Aber soll ich was sagen.
Diesen Patienten ist das vollkommen egal.
Die hören nicht mal zu.

Solche Patienten setzen als selbstverständlich voraus, dass wir NATÜRLICH alles Erdenkliche an Aufwand betreiben, um Ihnen zu helfen. ABER – darüber hinaus- selbstverständlich auch auf die Sekunde genau mit ihrer Behandlung beginnen. Genauso selbstverständlich wie wir mit der Behandlung warten, wenn sie selbst einmal, aus welchen Gründen auch immer, zu spät kommen. Zunächst aber ihre Zähne noch putzen möchten, dafür war auf der Arbeit keine Zeit. Und um Zahnbürste und Zahncreme bitten, die wir kostenlos für Sie bereithalten.

Fakt ist. Besagte Patientin weiss/sollte wissen, dass wir ihre letzte Chance sind, den besagten Zahn 46 zu retten. Ihr Hauszahnarzt (m/w/d – diese politisch korrekte Lächerlichkeit füge ich gerne hier an) hat den Zahn aufgegeben, der zu kontaktierende Implantologe sowieso. Bei uns hat die Dame gesehen, dass wir uns für Untersuchung/Beratung eine Stunde Zeit genommen haben. Und – Entschuldigung, der Ton macht die Musik, es hätte viele viele Wege gegeben, der Frustration über die Wartezeit angemessen Ausdruck zu verleihen, aber dem war nicht so.

Das Problem liegt also nicht (nur) bei uns, sondern (auch) auf Seiten der Patientin, ist ihrer individuellen Persönlichkeitsstruktur geschuldet.

Ich prophezeie schon jetzt mal an dieser Stelle, dass wir – entweder zeitnah oder irgendwann einmal in naher oder fernerer Zukunft die Erwartungen dieser Patientin nicht erfüllen werden.

Dumm nur, dass wir ausgerechnet in ihrem Falle über der Zeit waren. Wir mögen das ja selbst nicht. Vielleicht aber auch gut, denn so zeigt sich von Anfang an, auf welche Konflikte wir schon jetzt und zukünftig noch mehr latent hinsteuern. Und können uns fragen, ob wir uns das antun sollen. Denn – sollte die Behandlung nicht den gewünschten Erfolg zeigen – wie wohl wird die Patientin dies kommentieren aus ihrer Sicht der Dinge – Etwa – Ja, davon war leider auszugehen, dass dies, angesichts der Ausgangssituation so enden würde, aber VIELEN VIELEN DANK Herr Dr. Herrmann, wieviel Mühe sie sich gegeben haben. Oder eher – Wenn ich DAS gewusst hätte, dann hätt ich mich niemals hier so lange quälen lassen und dann das viele Geld, das ich jetzt zum Fenster rausgeschmissen habe, na vielen Dank dafür, ich hätte auf (wen auch immer) hören sollen, jetzt muss ich die Wurzelkanalbehandlung und das Implantat doppelt bezahlen.

Hören wir als auf, ich spreche hier aus eigener Erfahrung oder ich sage besser aus eigener Dummheit heraus, zu denken, uns jeden Stiefel anziehen zu müssen. Richtig, die Patientin musste warten, das war nicht unsere Schuld, wir haben weder getrödelt zuvor noch falsch eine klinische Situation eingeschätzt, aber wir sind letztlich verantwortlich dafür und jegliche Zeit ist kostbar. Heute ganz offensichtlich mehr denn je. Aber wir werden diese Problematik in unserem Bereich nie grundsätzlich ausschliessen können. Es sei denn wir behandeln nur ganz wenige Patienten am Tag und lassen zwischen besagten Patienten sehr sehr viel Luft, um alle Eventualitäten aufzufangen. DAS ist unrealistisch, wenn man nicht gerade der Leibzahnarzt vom Kim Yong Un ist, und auch das ist kein erstrebenswertes Berufsziel.

Wartezeiten, wie die erlebte, werden nie grundsätzlich vermieden, maximal das Risiko und das Ausmaß dessen wird reduziert werden können.

Und jetzt der Blick hinaus durch die nebelbeschlagenen oder in vielen Berufsjahren eingetrübten Glasscheiben des zahnärztlichen Gewächshauses.
Reiben wir doch mal an der Scheibe, wischeln diese sauber und was sehen wir dann ?

Waren Sie schon mal in letzter Zeit in einer anderen Arztpraxis, einem Krankenhaus ?
Auf einer Behörde ? Der KFZ – Zulassungsstelle? Am Fahrkartenschalter der Deutschen Bahn? Immer, wenn ich von dort zurückkomme, empfinde ich unsere Praxis aus der Sicht des gerade Erlebten als einen Ort, einen Hort der Glückseligkeit.

Und denke dann immerzu an eine Patientin aus meiner Zeit als Allgemeinzahnarzt, welche vor vielen Jahren, bis heute unvergessen, die Wartezeit auf ihre Prophylaxesitzung bemängelte, im gleichen Satz jedoch anfügte ACHTUNG Realsatire – Eigentlich kommt man (bis auf heute) ja bei Euch immer sehr schnell dran, bei meinem (angesagten) Friseur warte ich trotz Termin JEDES MAL 2 – 2,5 Stunden.

Die Lehre aus besagtem Vorfall.
Wir überprüfen unser QM: Warum musste die Patientin warten ? Hätten wir es vermeiden können? Wie können wir dies zukünftig im Vorfeld ausschliessen ? Was können wir tun, um die Wartezeit und die Frustration des Wartenden abzufedern ?

Aber darüber hinaus.
Auch.
Manchmal liegt das Problem nicht bei uns.

Und in solchen Fällen.

Nur in solchen Fällen, wohlgemerkt.

Hören wir auf, uns ein schlechtes Gewissen einreden zu lassen.
Der Patient – der unsere Bemühungen offensichtlich nicht adäquat anerkennt – ist frei, sich einen Ort zu suchen, an dem es ihm besser gefällt.

Das ist eine Win Win – Situation.
Wir freuen uns.
Für besagten Patienten.
Für unsere Patienten. Die wir statt dessen behandeln können.

Und für uns, unser Wohlbefinden, unsere Gesundheit. Unser Leben.

6 Gedanken zu „Fall zum Wochenende – reden wir Tacheles …

  1. Ich teile alles zum Thema Warten Gesagte uneingeschränkt, wenn bei uns ein Patient 30min warten muss, ist es sicher die Ausnahme. Das ist es in vielen anderen Praxen auch – weil es VIEL länger dauert!
    Man wird nicht jeden glücklich machen und nicht jeden Wunsch erfüllen können, nicht mal DU/ich/wir alle, die sich weit mehr als erwartbar darum bemühen.

  2. Hm, ehrlich gesagt würde ich ggf. der Patientin ganz genau DIESEN Text, den Sie da verfasst haben mitsamt Kommentar etc. vorlegen. Dieser zeigt doch, wie reflektiert Sie an die Situation herangehen, welche realistischen Schwierigkeiten vorliegen und so weiter und so fort. Unter Umständen wird die besagte Patientin das als Affront, ja vielleicht sogar als Frechheit verstehen, aber das sollte Sie dann nicht jucken. Alles darüber hinaus ist vergeudete Lebenszeit und -energie. Schöne Grüße, Klaas Köppe

  3. Aus aktuellem Anlass hier meine Szenario von genau jetzt.
    Pat. hat um 10:15 Termin für WK & WF 1,5 h, er hatte den Termin vor ein paar Tagen bestätigt, da wir mittlerweile jeden Par vorher anrufen.
    Nach 20 Min Verspätung Anruf von uns, wo er bleibt…
    Antwort: Er würde im Stau stehen und wäre in gut 5 Min da.
    Auf die Idee zu kommen uns anzufrufen und eine Wasserstandsmeldung vorab mitzuteilen… Fehlanzeige.
    Jetzt sind es gleich 35 Min Verspätung und ich werde nicht mehr anfangen…
    Frust

    • Gut zu wissen.
      Das heißt, selbst mit vorherigen Anrufen bleibt es manchmal Glückssache, ob der Patient kommt oder nicht.
      Erinnert mich auch wieder an die 80/20 Regel nach Pareto (angewandt auf Patienten).
      Ich versuche mich in letzter Zeit verstärkt von den 20% (eigentlich sind es weitaus weniger) Patienten konsequent zu trennen, um mein eigenes und das Umfeld meiner Patienten zu verbessern. Grobe Richtschnur bei beendenden Maßnahmen gibt dabei mein Puls bzw. meine Adrenalinausschüttung im Beisein eines besagten Patienten ;)
      Grüße

  4. „Bei uns oder besser bei mir ist es so, dass jede Wartezeit des Patienten mir körperliche Schmerzen verursacht.“

    Tut gut das zu lesen und wie Du damit umgehst.
    Tue mich wirklich sehr schwer damit.
    Und manchmal habe ich das Gefühl, dass ein immer pünktlicher Beginn bei einer zukünftigen Verspätung bei manchen Patienten sogar zu mehr Wut führt.
    Eine gewisse Gewöhnung an den pünktlichen Beginn wird dann zum Bumerang.

    Trotzdem ist es aus meiner Sicht richtig was Du sagst: alles zu beleuchten, was zu einer Verspätung geführt hat.
    Ich hoffe ich kann dann damit zukünftig besser leben, wenn ich trotz allen Vorkehrungen doch Mal zu spät bin.

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