Um das Heute zu verstehen, kann ein Blick auf das Gestern oft hilfreich sein.

von Thomas Weber

Hallo HaWi,

vielen Dank für einen absolut lesenswerten Beitrag, der  zu einigen Kommentaren geradezu herausfordert:

1883 schlug die Geburtsstunde der Bismarckschen Gesetzlichen Krankenversicherung, die der Absicherung elementarer Gesundheitsrisiken diente. Die Zahnbehandlung gehörte damals folgerichtig nicht dazu. Erst 1917 wurde Karies durch eine Entscheidung des Reichsversicherungsamtes als behandlungsbedürftige Erkrankung anerkannt und das Füllen von Zähnen Pflichtleistung der Krankenkassen. Unter dem Reichsarbeitsminister Franz Seldte führte erst 1943 der sogenannte „Verbesserungserlass“ erstmals zur Möglichkeit für Krankenkassen, in ihren Satzungen die Gewährung von Zuschüssen für Zahnersatz zu verankern. Aber erst 30 Jahre später beurteilte des Bundessozialgericht das Fehlen von Zähnen als behandlungsbedürftige Krankheit. In der Folge wurden zahnprothetische Behandlungen im „Rehabilitationsangleichungsgesetz“ vom 07. August 1974 unter Bundesgesundheistministerin Katharina Focke (SPD) in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung aufgenommen. Nahezu alle Krankenkassen übernahmen damals die Kosten für Zahnersatz vollständig, was zu einer erheblichen Kostenbelastung führte.

Die „want-have-“Leistungen der Zahnmedizin wurden also in Deutschland historisch zu „must-have“-Leistungen institutionalisiert. Ein fataler Irrweg.

Schauen wir auf dem Bereich der zahnärztlichen Honorare: Elisabeth Schwarzhaupt (CDU) ist im Jahre 1964 Ministerin für das Gesundheitswesen. Ihr Ministerium erarbeitet eine Bundes-Gebührenordnung für Ärzte und Zahnärzte. Denn die Honorare, die Mediziner von ihren Privatpatienten erhalten, berechnen sie bislang nach der schon 70 Jahre alten Preußischen Gebührenordnung, kurz „Preugo“ genannt. Deren Sätze wurden zwar 1957 etztmalig erhöht, aber die Listen ärztlicher Leistungen sind völlig veraltet. (Kommt einem dieses Szenario nicht irgendwie sehr vertraut vor?)

Es beginnt die „Bugo“-Zeit, die ihre Wirkung auf die GKV entfaltet: es entwickelt sich 1977 daraus der altevertraute BEMA zur Honorierung der Leistungen bei GKV-Patienten.

Mit BUGO-Z, BEMA und der 100%-Prothetik beginnt das „goldene Zeitalter“ der deutschen Kassenzahnheilkunde. Alles wünschenswerte und machbare wird bezahlt.

Unterhält man sich mit alten Landzahnärzten, die schon vor dieser Zeit praktizierten, wird klar, wie es vorher war: zum Zahnarzt ging man nur, wenn man musste: das Zahnziehen war die Regel, ein Röntgenbild musste bei der Krankenkasse zuvor beantragt werden, Wurzelkanalbehandlungen wurden, wenn überhaupt, nur an Frontzähnen und nur als „Vitalexstirpationen“ durchgeführt und das Herausreissen aller Zähne mit anschliessender Totalprothese war schon bei jungen Patienten eine oft gewählte Therapieform. Sicher gab es auch Patienten, die hochwertigere Versorgungen wünschten und zu zahlen bereit waren, die Prophylaxe wünschten und zahlten, doch dieses „Segment“ war sehr klein.

Als Landzahnarzt heute sieht man genau solche Tendenzen: die Zahl der Extraktionen aus „wirtschaftlicher Indikation“ steigt wieder an, kostenfreie Amalgamfüllungen ersetzen mehrkostenpflichtige Kompositfüllungen im Seitenzahnbereich, die Regelversorgung schlägt die höherwertige „Andersartige Versorgung“ und NE-Kronen solche aus Empress-Vollkeramik, professionelle Zahnreinigungen werden ausgesetzt, kieferorthopädische Behandlungen „geschoben“, bis eine Verschlimmerung der Anomalie eine Kostenübernahme der Krankenkasse garantiert.

Die gern gehörte Behauptung, das deutsche Gesundheitswesen sei eines der besten der Welt, erscheint so als eine Petitio principii. Wir laufen nach meiner Einschätzung nicht so sehr Gefahr, unser „gutes“ System gegen ein „postkapitalistisches“ einzutauschen (- das wir in sehr vielen Bereichen der Medizin längst haben -), als es in einem staatlichen „Bürgerversicherungsmodell“ aufgehen zu sehen, das – natürlich mit moderner Etikettierung – zur Einheitsversicherung (wahrscheinlich „Bundesagentur für Gesundheit“), zu Poliklinik-Strukturen (vielleicht „öffentlich-rechtliches Medizinisches Versorgungszentrum“) und zur Einheitsdiagnostik und- Therapie nach Einheitskatalogen und Einheitspositivliste (und das absolut positiv belegt: „Einklassenmedizin“) führt. Dabei kann es gut sein – und nach Ansicht vieler Medizinökonomen muss es so sein – , daß die Zahnmedizin, wie wir sie heute kennen, aus diesem Modell hinausfällt, und allenfalls rudimentäre „must-have“-Therapien verbleiben, deren Honorierung dann vielleicht wieder auf einem „vor-BEMA“- Niveau erfolgt.

Denn die Chance auf eine progressive Reform des Gesundheitssystems wurde auch unter dem FDP-Minister Dr. Rösler vertan. Der Versuch, die jetzt kommende Beitragserhöhung als „kleine Kopfpauschale“ zu etikettieren umd den Schein einer liberalen Position aufrechtzuerhalten ist – mit Verlaub – lächerlich. Und auch Zwangsrabatte der Pharmaindustrie sind kein geeignetes Mittel der Anpassung des Symstems an heutige Erfordernisse. Zwei Milliarden Euro Steuergelder Zuschuss werden auch nur maximal ein Jahr lang reichen.

Und die ersten drohenden Kasseninsolvenzen zeigen, dass selbst der palliativen prämortalen Schmerzlinderung „Gesundheitsfond“ das Morphium ausgeht.

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