Anatomie eines Notdienstes (6)

von Donald Becker

Eine Stunde und 10 Minuten war ich zu Hause. Kurz was essen.
Ausruhen ging nicht. Unkonzentriertes Blättern in der Weihnachtsausgabe der Süddeutschen, während ich das aufgewärmte Essen von Heilig Abend zu mir nehme, schon muss ich wieder weg.

Als ich am 1. Weihnachtsfeiertag um 17 Uhr wieder in die Praxis komme, sind aus den bislang angekündigten 6 Patienten bereits 13 Hilfesuchende geworden.

Eine Stunde später, um 18 Uhr befinden sich deutlich mehr als 20 Personen gleichzeitig in in unserer Praxis.
Wir haben keine Stühle mehr.

Ich gehe nach draussen und bitte alle Begleitpersonen, die Praxis zu verlassen.
Langsam fängt der Notdienst an, stark auch an meinen Nerven zu zehren. Und von der freundlichen Athmosphäre des gestrigen Vormittags ist nichts mehr zu spüren. Im Wartezimmer herrscht eine  gereizte  Grundstimmung.
Angenervte Gesichter angesichts der langen Warteschlange.

Und immer noch klingelt zwischendrin das Telefon.

Am Ende des Tages werden es 20 Patienten sein, die nach 17 Uhr unsere Praxis aufgesucht haben werden.  Eigentlich wären es sogar 22, aber 2 Patienten erscheinen nicht. Lange genug hätten wir auf sie gewartet, der eine war um 17.30, der andere um 19.00 anvisiert, erst  um 22.50 Uhr verlasse ich die Praxis.

20 Patienten seit 17.00 Uhr.
Die überwiegende Mehrzahl mit unklaren Schmerzproblematiken. Der Satz „Herr Doktor, ich habe starke Zahnschmerzen, aber ich kann ihnen nicht sagen, wo die Schmerzen herkommen“, wird zum Dauerbrenner.

Zu guter Letzt dann noch zwei schwierige Extraktionen.
Ein Zahn 17. Wurzelkanalbehandelt.
Zumindest der palatinale Kanal.
Bis in die Mitte.

Die anderen zwei oder drei Kanäle ?
WF Fehlanzeige.

Schmerzen seit mehreren Tagen.

Der Hauszahnarzt hat vor 2 Tagen okklusal ein Loch in den Zahn gebohrt, Ledermix eingelegt und den Zahn offengelassen.
Und davon solls besser werden ? Selbst kurz vor  Weihnachten würde ich nicht zu sehr an ein Wunder glauben.

„Wenn der Zahn Beschwerden macht, muss er raus“, sagte der Vorbehandler.  „Schöne Grüsse soll ich ausrichten, von Dr. Müller Maier Schmidt“, sagt der Patient, der es nicht mehr aushält vor Schmerzen. Schöne Grüße ? Das kann der Kollege nicht Ernst gemeint haben.

Irgendwann geht der Zahn raus. 4 Wurzeln,stark gespreitzt, 3 davon mit einander verbunden, alles zusammen eingeklemmt von einem impaktierten Zahn 18.

Und danach ein Zahn 37.

„Die linke Seite tut weh, aber ich kann nicht einmal sagen, ob von oben oder unten.“
Schon wieder.

Aber wenigstens lässt sich der schmerzauslösende Zahn klinisch schnell ausmachen.  Klopftest leicht positiv und die Sonde retiniert stark unter der vorhandenen Krone.
Massive Sekundärkaries.

Das Problem – mittelalte Patientin, kein Knochenabbau, stark abgeknickte lange Wurzeln, der Zahn total auf Gingivaniveau weggefault. Also fest im Knochen und nichts zu angreifen. Achja, und da ist noch  die  4 gliedrige Brücke, die dranhängt.

Ich trenne die Brücke distal  des 4ers ab, schon kommt der hintere Teil mir entgegen. Vermutlich ist die Karies durch Dezementierung enstanden. Oder die Dezementierung durch die Karies. Das Ergebnis ist das Gleiche. Nicht mehr zu machen.
Die Wurzeln lassen sich trennen und  trotz fehlender Hebelmöglichkeiten schneller als zunächst befürchtet entfernen.
Natürlich nicht in dem Zeitrahmen, den die Krankenkasse für einen solche Verrichtung vorsieht, aber immerhin rascher als beim Zahn zuvor.

Das war die letzte Patientin. Niemand mehr im Wartezimmer.
Es ist kurz nach 22.00 Uhr.  Jetzt noch alle Eintragungen und Arztbriefe, die liegengeblieben sind, weil beim „Zwischen den drei Behandlungszimmern auf Rollschuhen hin und her Wechseln“ keine Zeit dafür blieb.

Und bitte – bitte keine Anrufe mehr.
Wobei die Erfahrung zeigt, dass in der Regel zwischen halb Elf und Elf noch mal das Telefon klingelt. Und zwischen zwei und drei Uhr, aber so weit sind wir noch nicht.

22. 35 Uhr.
Ich bin fast fertig mit meinen Eintragungen.

Das Telefon.
Klingelt.

Ich wusste es.
Ich gehe direkt dran.

„Hallo, machen Sie Extraktionen in Vollnarkose ?“

„Nein, machen wir nicht“.

„Können Sie mir sagen, wer so etwas macht hier bei uns ?“

Kann  ich.

„Das macht der Herr Dr. Müller Maier Schmidt“.

„Der hat jetzt aber nicht auf, oder ?“

Mit Sicherheit nicht“ ,antworte ich. Ist nur eine Vermutung, aber wir haben den ersten Weihnachtsferiertag und es ist nach 22.30 Uhr.

„Danke“, sagt die Dame und legt auf.

Und das war er dann, unser Notdienst.

Bis 3 Uhr nachts bin ich noch wachgeblieben vorm Computer. Weil es für mich nichts Schlimmeres gibt, als im Schlaf geweckt zu werden von einem Telefonanruf und ich daher ohnehin erst schlafen kann, wenn ich todmüde bin.
Es hat aber niemand mehr angerufen.
Gott sei Dank.

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