Die vier Fehler im Umgang mit dem Coronavirus: ein aufschlussreicher Rück- und ein kleiner Ausblick
Am Anfang waren wir allzu selbstzufrieden, nun sind wir panisch. Was genau ist geschehen – und wie geht es weiter?
In der Panik der Pandemie begehen wir eine Menge Kategorienfehler.
Unser Geist scheint heute im Hinblick auf das, was unsere Körper befallen könnte, in einem Zustand grosser Konfusion zu sein. Plötzlich fürchten wir uns vor dem unsichtbaren, aber anscheinend allgegenwärtigen Coronavirus. Wir bemühen uns, klar zu denken und folgerichtig zu handeln – aber es gelingt uns längst nicht immer.
Als ich die Leser dieser Kolumne vor eineinhalb Monaten erstmals davor warnte, sie sollten sich auf eine Pandemie des Coronavirus vorbereiten, wurde ich weithin als verschroben angesehen. Inzwischen sagt laut einer kürzlich veröffentlichten CNN-Umfrage eine Mehrheit der Amerikaner, es sei zumindest einigermassen wahrscheinlich, dass jemand in ihrer örtlichen Gemeinschaft in den nächsten Wochen mit dem neuartigen Coronavirus infiziert werde. So ändern sich abrupt die Zeiten.
Ende Januar wies ich die Kunden meiner Beratungsfirma Greenmantle darauf hin, dass die «Finanzmärkte das Ausmass des wirtschaftlichen Rückgangs in China, das mit dem Coronavirus – und Pekings verspäteter aggressiver Reaktion darauf – verbunden sei, noch nicht eingepreist haben». Nur eine Minderheit nahm das ernst; noch vor zwei Wochen machte sich jemand über mich lustig und bezeichnete mich als stirnrunzelnden Spielverderber.
Die Stirn lege ich in der Tat weiterhin in Falten. Dafür gibt’s gute Gründe: Ungeachtet des Pfeifens im Walde sind US-Aktien letzten Freitagnachmittag um 20 Prozent unter ihren Höchststand gefallen.
Die ersten beiden Kategorienfehler
Doch wo liegen die Denkfehler? Der erste Kategorienfehler, den ich derzeit beobachte, betrifft die vielen Investoren, die angesichts der extremen Volatilität des Marktes in der letzten Woche – die es mit den finanziellen Zuckungen von 1987, 2001 und 2008 aufnehmen kann – zu dem Schluss kommen, es handle sich um eine Finanzkrise. Sie erwarten deshalb, dass Zentralbanker und Finanzminister so damit umgehen, wie sie es in der letzten Finanzkrise getan haben.
Doch hier handelt es sich nicht um eine echte Finanzkrise, sondern um einen Notstand der öffentlichen Gesundheitsfürsorge mit finanziellen Symptomen. Währungstechnische und steuerliche Anreize können die Pandemie wahrscheinlich ebenso wenig aufhalten, wie eine Quarantäne der Wall Street die grosse Bankenpanik vom September 2008 aufgehalten hätte. Kein noch so grosser Betrag an quantitativen Lockerungen und Defizitfinanzierung kann eine Rezession in Amerika abwenden, wenn Covid-19 sich exponentiell in der Bevölkerung ausbreitet und wenn die Kombination aus vorsichtigen Absagen und Verbraucherpanik einen grossen Teil der wirtschaftlichen Aktivität lahmlegt.
Ein früherer – zweiter – Kategorienfehler war die Verwechslung von Demagogie und Führerschaft. Ich war bekanntlich keiner von denen, die trotzig auf «Trump – niemals» beharrten, nachdem der derzeitige Insasse des Weissen Hauses 2016 die Vorwahlen der Republikaner gewonnen hatte. Ich war eher einer, der «Trump – zuweilen schon» dachte; jemand, der mit allen geziemenden Vorbehalten in Hinblick auf Trumps Charakter und Temperament anzuerkennen bereit war, dass die Methoden dieses Präsidenten mit seiner zügellosen, instinktiven Art eine Verbesserung gegenüber der Aussen- und Wirtschaftspolitik seines Vorgängers gebracht hatten.
Doch es war stets eine Krise zu erwarten, die die Mängel dieses Präsidenten ans Licht bringen würde – und sie ist ausgerechnet in dem Jahr eingetreten, in dem er seine Wiederwahl anstrebt. Vor zwei Wochen meinte ich, Covid-19 stelle eine tödliche Gefahr für seine Präsidentschaft dar. Am letzten Donnerstag schlossen sich die Vorhersagemärkte meiner Ansicht an, als Joe Biden zum Favoriten für die Wahl am 3. November wurde.
Fehler drei: Seien wir auf der Hut
Nichtsdestoweniger kommt es mir vor, als hätte ich Peter Wehners letztes Stück in «The Atlantic» – «Die Präsidentschaft Trumps ist vorüber» – schon zuvor einige Male gelesen. Genau, das war Steve Bannons Aussage im August 2017, als er als Chefstratege des Präsidenten abgesetzt wurde. Zahlreiche weniger interessante Gestalten haben sie seither verwendet – und lagen falsch.
Das bringt mich zum dritten potenziellen Kategorienfehler. Ist Kalifornien – oder der Staat New York – Italien? Wenn ja, bin ich auch der Ansicht, dass Trump erledigt ist. Aber sind wir uns dessen sicher? Werden die Auswirkungen des Coronavirus für einige US-Staaten wirklich ebenso verheerend sein wie für Italien?
Inzwischen geht man in weiten Kreisen davon aus, dass es so sein wird. Deswegen kam es in vielen unserer örtlichen Supermärkte zu Panikkäufen bei Mitteln zur Händedesinfektion und bei Toilettenpapier. Deshalb verlässt eine erhebliche Zahl meiner Freunde Kalifornien und New York und begibt sich in Staaten, die ihrer Meinung nach weniger stark von der Pandemie betroffen sein werden. Am Samstag erlebte der John F. Kennedy Airport einen Ansturm von Menschen, die das gemacht haben, was Menschen in Seuchenzeiten seit alters her getan haben: Sie fliehen aus der Grossstadt (und verbreiten das Virus).
Wenn ganz Amerika den Weg Italiens geht, dann wird es unter Berücksichtigung der Gesamtbevölkerung 95 000 bestätigte Fälle von Covid-19 und fast 7000 Tote geben. Die kriegsähnlichen Szenen in manchen italienischen Kliniken werden in San Francisco und New York erneut aufgeführt werden – und sie könnten sogar schlimmer ablaufen, da in Amerika etwas weniger Klinikbetten pro Kopf vorhanden sind als in Italien.
Das Rätsel in den USA
Ein Rätsel ist, warum das nicht bereits geschieht. Zwischen dem 1. Dezember und dem 5. Februar ging annähernd die gleiche Zahl von Flügen von Wuhan nach Rom (28) und Paris (23) wie nach San Francisco und New York (jeweils 23). In der Tat lag Amerika laut Recherchen von Netzwerk-Wissenschaftern an der Northeastern University in Massachusetts auf dem fünften Rang der Länder mit der grössten Wahrscheinlichkeit, Covid-19 aus China einzuführen – nach Thailand, Japan, Taiwan und Südkorea. Für Italien lag das Risiko erheblich niedriger. Ausserdem hätte Amerika gemäss einem neuen Aufsatz des gleichen Teams das lokale Auftreten von mehr als 50 Infektionen pro Tag schon früher als Italien erleben müssen.
Doch obwohl die Kurve der bestätigten Fälle in den USA etwa so steil aussieht wie die in Italien, scheint eine zeitliche Verzögerung vorzuliegen. Einige haben die Hypothese geäussert, Amerika liege etwa 11 Tage hinter Italien, weshalb San Francisco am 26. März so weit sein wird wie Mailand im Moment. Doch was steckt dahinter?
Eine auf der Hand liegende Erklärung ist die katastrophale Langsamkeit, mit der Amerika es geschafft hat, funktionsfähige Tests auf Covid-19 verfügbar zu machen. Doch auch ohne Testergebnisse sollte man erwarten, dass in amerikanischen Kliniken schon weit mehr Menschen erkranken und sterben. Es ist ja nicht so, dass ältere Amerikaner im Schnitt gesünder sind als ihre italienischen Zeitgenossen – ich würde meinen, eher das Gegenteil sei der Fall. Eine bessere Erklärung, die ich zwei deutschen Ökonomen verdanke, läuft darauf hinaus, dass die soziale Vernetzung in Italien sich vielleicht von der Amerikas unterscheidet, soweit es um allgemeine Geselligkeit und körperliche Nähe geht und vor allem auch, was die Interaktionen zwischen den jüngeren und den älteren Generationen angeht.
Der wichtige vierte Fehler
Ein vierter und letzter Kategorienfehler ist es, eine echte Pandemie mit Science-Fiction zu verwechseln. So, wie es eine zu schwache Reaktion war, Covid-19 als bloss eine weitere Grippe abzutun, ist es eine Überreaktion, zu glauben, wir befänden uns jetzt in dem Film «Contagion» oder dem Roman «Das Licht der letzten Tage».
Wir treten in die Panikphase der Pandemie ein. Paradoxerweise ist das gut so – denn nur ein paar Wochen mehr Selbstzufriedenheit wären wirklich ein weiterer folgenschwerer Fehler gewesen.
Niall Ferguson ist Senior Fellow am Zentrum für europäische Studien in Harvard und forscht gegenwärtig als Milbank Family Senior Fellow an der Hoover Institution in Stanford, Kalifornien. Der obenstehende Essay ist eine Kolumne, die Ferguson für die britische «Sunday Times» verfasst hat – sie erscheint hier exklusiv im deutschen Sprachraum. Wir danken der «Sunday Times» für die Möglichkeit des Wiederabdrucks. – Aus dem Englischen übersetzt von Helmut Reuter.