von Lodlan Reckeb
Evidenz, das ist das Schlagwort in der modernen Medizin. In Wikipedia heißt es dazu:
Definiert wird Evidenzbasierte Medizin (EbM) ursprünglich als der bewusste, ausdrückliche und wohlüberlegte Gebrauch der jeweils besten Informationen für Entscheidungen in der Versorgung eines individuellen Patienten [6]. EbM beruht demnach auf dem jeweiligen aktuellen Stand der klinischen Medizin auf der Grundlage klinischer Studien und medizinischen Veröffentlichungen, die einen Sachverhalt erhärten oder widerlegen – die sogenannte externe Evidenz.
In der klinischen Praxis der EbM bedeutet dies die Integration individueller klinischer Expertise mit der besten, verfügbaren, externen Evidenz aus systematischer Forschung, schließt aber auch die Patientenpräferenz mit ein. EbM kann aber auch den Verzicht auf Therapie beinhalten, d. h. zu wissen, wann keine Therapie anzubieten besser ist für den Patienten, als eine bestimmte Therapie anzubieten [7].
Nun springen die Kostenerstatter auf den Evidenzzug auf. Zitat einer Unfallversicherung zu einer Kostenübernahme:
“Wir beziehen uns auf den eingereichten Kostenvoranschlag für eine Wurzelbehandlung unter Einsatz eines Dentalmikroskops des Herrn Lodlan Reckeb*.
Unser beratender Zahnarzt vertritt die Auffassung, dass zumindest nicht durch evidenzbasierte Langzeitstudien belegt ist, dass die vorgesehene Maßnahme überhaupt zu einer Verlängerung der Zahnerhaltung gegenüber der herkömmlichen Behandlung führt.”
Die Ausgangssituation war ein Z.n. Trauma mit nicht abgeschlossenen Wurzelwachstum beim einem jugendlichen Patienten, iatrogener Eröffnung der Pulpa vor über einem Jahr (Trep. offen), C. profunda und P. apicalis. Die Therapieempfehlung ist die Wurzelbehandlung mit Apexifikation unter Verwendung von MTA. Dieser Zahn blieb über ein Jahr unbehandelt nach der Trepanation, obwohl der Patient verschiedenen Zahnärzte aufsuchte.
Die moderne zeitgemäße Argumentation fordert Evidenz. Wie schrieb Hülsmann in der Zeitschrift “Endodontie”: “Der neue Dreh: Man wirft der Gegenseite „mangelnde Evidenz“ vor, zeigt gewissermaßen den wissenschaftlichen Stinkefinger!”
Damit ist man raus aus der Nummer. Irgendwer wird es schon zahlen. In diesem Fall war es Lodlan Rebeck.
Es bleiben Fragen für mich:
Was ist eine evidente Langzeitstudie?
In welchem zahnmedizinischen Fachbereich gibt es evidente Langzeitstudien?
Wieso wird auf das Dentalmikroskop verwiesen und die Apexifikation mit MTA nicht hinterfragt?
Mir sind die Evidenzgrade bekannt. Diese kann man hier nachlesen.
Die Gruppe A mit dem höchsten Level beinhaltet randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) mit umfangreichem Datenmaterial. Langzeitstudie – wird nicht erwähnt. Es ist kein Fachausdruck der EBM.
Ist das Dentalmikroskop evident?
Nein, denn es gibt nur eine dünne Studienlage dazu. Warum fragt man sich? In einem Land in welchem Abbe zusammen mit Schott und Zeiss die optische Industrie zu Weltruf führte.
Die Dentalmikroskope sind teuer, es gibt keine Honorierung für die Nutzung des Gerätes, das Instrumentarium muss der optischen Vergrößerung adäquat verändert werden, die Assistenz muss geschult werden, die Unterhaltskosten sind hoch, es bedarf einer langen Lernkurve des Behandlers und durch die enorme Detailgenauigkeit wird bei entsprechender Sorgfalt die Behandlungszeit deutlich länger.
Da muss man schon ziemlich viel Idealismus haben um sich solch ein Gerät anzuschaffen und dann noch mehrfach täglich Gespräche zur ungeklärten Kostenerstattung mit anschließender Korrespondenz zu führen.
Anbei der Behandlungsfall.
* Name von der Redaktion geändert. ;)**
** Copyright by Dr. Geldgier
schöner fall- glück für den patienten. was dürfen wir denn evidensbasiert anbieten aus dem gkv katalog? rein eminenzbasiert ist die beobachtung, dass man immer weniger behandelt und immer mehr briefe schreibt, schade.
Lieber Lodlan Reckeb,
wie so oft ist der Begriff der evidenzbasierten Medizin hier missbraucht worden. Und warum?
1. Weil die meisten Leute, die damit argumentieren, den Sinn, den Geist, geschweige denn die Grundlagen der EBM, gar nicht kapiert haben.
2. Weil sich kaum jemand argumentativ auf eine inhaltliche Diskussion dazu einlässt, weil eben 1. gilt.
Die heute übliche und sehr unakademische, rein mechanistische Bewertung wissenschaftlicher Evidenz nach Schemata birgt viele Gefahren. Die Evidenz-Bewertung ist heute oft leider noch immer eine primär formal-methodische Bewertung. Aber die Evidenzstufe sagt gar nichts über die tatsächliche klinische Relevanz einer Empfehlung oder über den tatsächlichen Nutzen einer Therapie für den Patienten aus. So wird in bisherigen Schemata die randomisierte kontrollierte Studie (RCT) als am höchsten aussagekräftig angesehen. Dies gilt aber z. B. bei Fragen nach optimaler Diagnostik nur eingeschränkt. In bestimmten Fällen sind RCTs außerdem überhaupt nicht durchführbar, weil die Fallzahlen von Erkrankungen zu gering sind (sog. „orphan diseases“) oder weil therapeutische Alternativen fehlen und eine Nichtbehandlung ethisch unvertretbar ist, so dass keine entsprechende Kontrollgruppe gebildet werden kann. Dies gilt ganz besonders im Bereich der Zahnmedizin. Verwendet man diese Tatsache als „Totschlagargument“ in der wissenschaftlichen Diskussion, verkennt man, dass EBM die beste verfügbare Evidenz berücksichtigen soll und eine „Diskriminierung“ qualitativer Studien, oder selbst von Kasuistiken, die für bestimmte Fragestellungen durchaus sehr wertvoll sein können, dem eigentlichen Anliegen, dem “Geist” der EBM zuwiderläuft.
Dein Fall, eine “Kasuistik”, ist ein Puzzelteil der Evidenz der von Dir gewählten Therapie! In einer wissenschaftlichen Zeitschrift publiziert wäre er noch wertvoller, damit auch andere (z.B. Beratungszahnärzte) daraus lernen. Die Behauptung des beratenden Zahnarztes ist dagegen gar nichts…. nicht mal “Expertenmeinung” (und selbst dass wäre ein schwächeres Evidenzlevel).
Evidenzbasierte Medizin ist kompetentes Handeln in einem konkreten Fall nach reiflicher fachlicher Überlegung und auf wissenschaftlicher Basis. Der Fall bzw. seine “Outcome” zeigt, dass Du vollkomen richtig gehandelt hast.
Lodlan, Dein Problem ist nicht die Evidenz. Dein Problem ist “Erstattungsfähigkeit”, der Wunsch des Patienten nach Vollkasko-Gesundheitsschutz, das tiefste Grundübel der Medizin unserer Tage.
Aber: es ist ein Problem des Patienten unserer Tage. Wenn der (oder hier besser: seine Eltern für ihn) wirklich alternativ die Extraktion mit Plattenprovisorium will, weil das besser oder höher oder ganz erstattet wird, dann soll er es halt kriegen. Es ist seine Entscheidung. Gegen Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens.
Lass Dich nicht entmutigen, Deine Therapie nach Deinem Wissen, Deinen Fähigkeiten und Deinen Möglichkeiten zu wählen, zu empfehlen und durchzuführen. Dein Weg ist richtig und vernünftig und er ist genau deshalb evidenzbasiert.
Dass ist nämlich dass, was “evidenzbasiert” schon seit jeher meint:
Cicero nannte es “pflichtgemässes Handeln” (….nec vero agere quicquam, cuius non possit causam probabilemm reddere…).
Und das ist letztlich eine Frage des Charakters.
Lodlan, ich ziehe jedenfalls meinen Hut vor Dir!
Grüße vom Lande, Thomas