Und wieder Toxavit

von Hans – Willi Herrmann

Die  Assistentin kommt heulend aus dem Zimmer.

Es ist ein gespieltes Heulen, um ihrer Stimme mehr Dramatik einzuhauchen, aber jeder vom Team weiss, worum es geht und wie sie sich jetzt gerade fühlt.

“Er hat bei mir Toxavit eingelegt”.

Vor einigen Jahren war der alte Chef verstorben.
Nicht ganz überraschend, denn er war schon etwas länger gesundheitlich angeschlagen, aber doch unerwartet, weil er bis fast zum letzten Tag gearbeitet hatte.

Die Praxis wurde zunächst mit wechselnden Vertretungen am Laufen gehalten.
Von den Kollegen aus dem Freundeskreis abgesehen, die zu Beginn aushalfen, mit unmotivierte Behandlern, die für viel Geld ganz ganz wenig Engagement gezeigt hatten.

Dann  endlich kam der Neue.
Ein junger Zahnarzt, Universitätsausbildung neuester Stand.
Dann 2 Jahre Assistenzeit wie üblich.
Und jetzt bereit, die etablierte Praxis  weiterzuführen,  vielleicht sogar um moderne Aspekte zu erweitern.

Leider war dem nicht so.
Es fing an damit, dass der Kollege den vom Team angebotenen Kofferdam bei Kunststoff- Füllungen, Amalgamentfernungen und Wurzelkanalbehandlungen ablehnte.
Auch das Angebot der Assistentinnen, den Kofferdam selbst anzulegen, so dass er damit gar nichts zu tun habe, wies er zurück. 

“Braucht man nicht”, gab er zurück.

Dann fing er an, Zähne bei der Wurzelkanalbehandlung offen zu lassen. Das hatte es beim alten Zahnarzt nie gegeben.
Und schließlich  das Toxavit, bei den Patienten und jetzt auch bei seiner Mitarbeiterin.
Aus reiner Bequemlichkeit, Gedankenlosigkeit, Bocklosigkeit.

Traurig, sehr traurig.
Wenn das der alte Chef wüßte, er würde sich im Grab rumdrehen.